Jimmy, Jimmy
Anrufe in Abwesenheit. Jill. Brian. Brian. Jill hatte eine Nachricht hinterlassen. Es gab Streit mit Benno. Sie wollten sich nach der Schule treffen. UM ZU SEHEN, OB ES AUS IST. Jill, wie sie leibt und lebt. Eine Beziehung ohne Drama ist ihr einfach zu fad. Keine Nachricht von Brian. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, und beschloss, mir erst mal keine Gedanken zu machen.
Das große Tor zu Martins Anwesen in der Friary Street ist geschlossen, aber ich kann durch den kleinen Spalt zwischen Tor und Mauer spicken. Die Straßenlaterne auf dem Bürgersteig gegenüber beleuchtet die Einfahrt und den Rasen vor dem Haus, das mir als kleines Mädchen wie ein Schloss vorgekommen ist. Jetzt sieht man, dass es von Grund auf renoviert wird. In der Einfahrt stehen ein gelbes Baufahrzeug und ein Zementmischer, die Giebelseite des Hauses ist eingerüstet. Ich frage mich, wie lange das allesnoch dauert, wie viel Zeit Mam noch bleibt, um eine endgültige Entscheidung zu treffen.
Neben mir in der Mauer ist die Wechselsprechanlage mit der Tastatur für den Zahlencode, mit dem man das Tor öffnen kann. Ich kenne ihn. Martin hat ihn mir schon verraten, als ich noch gar nicht zu der Anlage hinaufreichte. Ich erinnere mich, wie Dad mich hochhob und so tat, als wüsste er die Zahlen nicht. Als ich sie dann eintippte und das Tor sich öffnete, nannte er mich eine Zauberin, und ich glaubte wirklich, ich wäre eine. Jetzt hängt allerdings ein großes Vorhängeschloss am Tor, und meine Zauberkräfte reichen leider nicht, um es zu knacken. Dann klingelt mein Handy, und ich komme nicht mal auf die Idee, nicht dranzugehen.
»Eala?«
»Ja, Brian.«
»Geht’s dir gut?«
»Mir geht’s großartig«, sage ich, dann weiß ich nicht weiter. Es ist eine unmögliche Situation. Es gibt zu viel zu sagen. Oder eigentlich zu viel, was man besser nicht sagt. Ich versuch’s trotzdem: »Und dir?«
Die Verbindung geht in einem hässlichen Rumpeln unter. Er ist irgendwo draußen, wo es womöglich stürmt. Seine Antwort kann ich nicht hören, dafür ein leises Scharren, dann ein Pfeifen, und schließlich ist es still, aber zum Glück nicht lange.
»Eala?«
»Du warst auf einmal weg. Wo bist du eigentlich?«
»Unten in Cork«, sagt er. »An dem Ort, von dem ich dir erzählt hab. Die feuchte Wiese, erinnerst du dich?«
»Klingt, als hättet ihr da unten einen Tornado.«
Ich stehe im goldenen Abendlicht in einer stillen Straße und bin gleichzeitig irgendwo im stürmischen Cork, wo mir in der hereinbrechenden Dämmerung der Wind in die Haare fährt und in den Ohren braust, dass ich nicht mal mehr mein Gedanken hören kann.
»Eala? Hörst du mich? Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Nein.«
»Ich liebe dich, Eala.«
Bis jetzt hab ich nicht gemerkt, wie mir der Riemen meines Rucksacks in die Schulter schneidet. Jetzt merke ich’s. Unten in Cork wird der Wind wieder stärker.
»Können wir’s nicht noch mal versuchen?«, fragt er.
»Nach meinem Auftritt bei euch zu Hause? Wer würde was mit so einer Irren haben wollen?«
»Ein Irrer vielleicht?«
»Danke.«
»Nein, nein, so hab ich’s nicht gemeint.«
»Ich auch nicht.«
Das Brennen auf meinen Wangen fühlt sich angenehm an. Ich gehe weiter, weg vom Tor zu Martins Anwesen. Seltsam, dass sich der Rucksack im Gehen leichter anfühlt.
»Und was machst du in Cork?«
»Es ist eine lange Geschichte. Ich erspar dir die Einzelheiten, aber ich hab ’ne Menge Dinge in Ordnung gebracht … ’ne Menge.«
»Erzähl trotzdem!«, sage ich. »Je länger, desto besser. Hauptsache, ich hör deine Stimme.«
»Nun ja, es hat mit dir zu tun. Dad … also Dad ist ausgerastet, als er von deinem … deinem Besuch erfahren hat. Er ist auf mich losgegangen, und da bin ich auch ausgerastetund hab alles ausgekotzt, die ganze Geschichte, wie ich mit Sham in dem Auto gesessen hab, die ganze Scheiße. So ist alles rausgekommen, und Mum hat wie ein Schiedsrichter zwischen uns gesessen, dass mal er reden durfte und mal ich, und wenn’s zu laut wurde, hat sie uns beruhigt. Es war, als hätte die Geschichte jahrelang darauf gewartet, dass sie endlich ans Licht kommt. Als hätte man vorher nichts in Ordnung bringen können. Jetzt weiß ich endlich, was ich zu tun habe.«
Ich gehe die Long Mall hinunter. Mrs Caseys Laden ist auf der anderen Straßenseite. Er scheint geschlossen zu sein, aber drinnen ist ein schwacher Lichtschein zu sehen. Ich sehe sie vor mir, wie sie in diesem dünnen Nachthemd vor unserer
Weitere Kostenlose Bücher