Jimmy, Jimmy
Miss Understanding bei uns auftaucht.
»Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich wütend sein?«
»Du hättest alles Recht der Welt dazu, Eala«, sagte sie, ganz triefende Sympathie. »Dein Dad ist, nun ja, in vielerleiHinsicht … jedenfalls für den Augenblick … mehr oder weniger ein kleiner Junge, und du bist mit Dingen konfrontiert, die man keiner Fünfzehnjährigen …«
»Sechzehnjährigen.«
»Wem gibst du die Schuld, Eala? Wen möchtest du bestrafen?«
»Niemand.«
»Nicht mal Clem Healy?«
»Er ist ja selbst jemand, der irgendwie Hilfe braucht«, sagte ich. »Hat mir jedenfalls Mam erklärt.«
Das ist noch etwas, das die Leute nicht auf die Reihe kriegen: wie verständnisvoll Mam ist – sogar wenn es um den kleinen Scheißkerl Clem Healy geht. Sie hat mir erklärt, dass Clem eins von diesen langsamen Kindern mit allen möglichen Lernschwierigkeiten ist. Sie kennt seine Akte. Aber mir ist seine Akte egal. Er hat unser Leben zerstört. Dafür gibt es keine Entschuldigung.
»Bist du wütend auf Judy?«, fragt die nervige Psychotante.
»Nein.«
»Bist du wütend auf dich selbst?«
»Warum sollte ich? Ich hab nichts Falsches getan.«
Aber ich bin es. Ich bin wütend auf mich selbst. Und auf Mam. Und Jill. Und Brian. Und fast jeden, der mir über den Weg läuft. Es ist, wie Dad von einem seiner Fußballkumpel immer sagte: Im Moment würde ich selbst in einem leeren Raum Streit anfangen. Und Miss U gab keine Ruhe. Sie musste noch eine letzte bescheuerte Frage stellen.
»Bist du wütend auf Jimmy?«
Ich stand auf und ging aus dem Zimmer.
6
Martin ist seit einer Dreiviertelstunde hier, und Dad ist immer noch nicht aufgetaucht. Von unten ist nichts zu hören, und im Wohnzimmer wird es schwieriger, ein Gespräch in Gang zu halten. Mam versucht, interessiert auszusehen, wenn Martin mit immer noch einer Dad-Geschichte gegen die Stille ankämpft. Das ganze Getue um schöne Erinnerungen nervt sie. Sie hat’s mir gesagt. Dad zuliebe müssen wir nach vorn schauen und uns nicht mit der Vergangenheit aufhalten, so sieht sie das.
Ich sehe es anders. Ich möchte jede noch so kleine Geschichte über Dad hören. Ich sehe in letzter Zeit vieles anders als sie, aber das behalte ich für mich. Andererseits führe ich lange Streitgespräche mit Angie, der unsichtbaren Freundin aus meiner Kindheit, wenn sie was gegen Mam sagt. Wieso weint sie überhaupt nicht mehr, Eala? , fragt sie mich. Oder: Wieso verbringt sie so wenig Zeit mit ihm? Ich muss mit dieser Angie-Geschichte aufhören. Es ist zu verrückt. Besonders wenn ich ihrem Vater gegenübersitze.
Martin ist klein und drahtig und einer von den Leuten, die ständig mit dem Fuß wippen oder mit den Fingern auf Armlehnen oder Tische trommeln, und wenn nicht, müssen sie sich strecken, um ihre verspannten Nackenmuskeln zu lockern.
»Wir haben gegen Clonmel Town gespielt, das letzte Spiel der Rückrunde, und wir brauchten ein Unentschieden, um Meister zu werden«, erzählt er. »Wir liegen ein Tor zurück, und plötzlich ruft Jimmy …«
Mam hat Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen, und ich kann sehen, wie die von unten heraufdringende Stille sie quält. Auch Martin merkt, was los ist.
»Tut mir leid, Judy, ich rede Unsinn«, sagt er. Er zieht an einem Finger, bis es knackt, und der Schmerz treibt ihn in einen neuen Redeschwall. »Wir hatten nie Streit, Jimmy und ich, nie. Die ganzen Jahre nicht. Oder doch, ein einziges Mal. Aber davon ist nichts hängen geblieben.«
Mams hohe Wangenknochen überziehen sich mit einem dunklen Rot. Schwer zu sagen, ob sie verärgert ist oder verlegen. Die Situation wird immer schwerer auszuhalten: drei Menschen, die überlegen, was sie sagen könnten, ohne dass es peinlich wird. Martin versucht es wieder.
»Es ist eine Schande, wie wenig für Jimmy getan wird«, sagt er. »Wie soll er gesund werden, wenn er nicht alles bekommt, was er an Reha-Maßnahmen und Spezialbehandlungen …«
»Es geht ihm hier sehr gut«, unterbricht ihn Mam.
Manchmal hat sie diesen Ich-bin-euch-haushoch-überlegen-Blick. Von »Judys hauteur « sprach Dad, wenn er mal wieder seine Französischnummer draufhatte. Jetzt bedenkt sie Martin mit so einem Blick, und er weiß nicht, warum.
»Trotzdem, wenn ich irgendwas tun kann«, sagt er. »Wenn ihr noch jemanden braucht, einen Pfleger oder einen Betreuer, ich kann das übernehmen, kein Problem.«
»Es ist keine Frage des Geldes«, sagte Mam.
Ich verstehe nicht, warum sie ihn so behandelt. Er hat ausnahmsweise
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