Jimmy, Jimmy
Eala!«
Wann hat er sich zum letzten Mal bei mir bedankt? Hater’s überhaupt schon mal getan? Wenn ja, kann ich mich nicht daran erinnern.
»Wir kriegen ihn wieder hin. Zu hundert Prozent«, sagt er. »Wir müssen.« Aber da ist ein Anflug von Angst in seiner Stimme, der mich erschreckt.
»So, wie wir alle wieder zu hundert Prozent sein werden, wie wir waren – träum weiter!«, sage ich und bin davon mindestens so überrascht wie er. Ich sehe, dass er erst antworten möchte und dann beschließt, seinen freien Abend lieber nicht aufs Spiel zu setzen. Er geht die Treppe hoch, und ich folge ihm.
»Ich sag Mam Bescheid, bevor wir gehen«, sagt er.
Aber kurz bevor wir oben sind, bleibt er plötzlich stehen. Wir bleiben beide stehen. Wir sind nur ein paar Schritte von der Wohnzimmertür entfernt. Sie steht einen Spaltbreit offen, und wir hören Mams Stimme.
»Das Leben geht weiter«, sagt sie. »Es hat keinen Sinn, sich mit der bescheuerten Schuldfrage aufzuhalten.«
Martins Stimme ist so leise, dass wir ihn nicht verstehen, aber was er sagt, scheint Mam nicht zu gefallen. Ich kann die Spannung zwischen den beiden bis in die Magengrube spüren. Sean drückt sich an mir vorbei die Treppe hinunter. Danke, Sean, du bist mir eine große Hilfe!
»Die Gerichtsverhandlung?« Ein Dezibel mehr, und Mam würde schreien. »Was soll die Gerichtsverhandlung auch nur für einen von uns ändern? Nichts. Überhaupt nichts. Meinst du, wegen so was schicken sie einen kaputten Jungen ins Gefängnis? Bestimmt nicht. Und wenn, wofür wäre das gut?«
Von unten schaut Sean zu mir herauf. Ich denke: Wenn der Junge ungeschoren davonkommt, dreht Sean durch. Dannnehme ich die letzte Stufe und erreiche die Tür im selben Moment, als Mam sie von der anderen Seite aufreißt und meinen Namen schreit.
»Eala!«
Dann sieht sie mich. Sie zieht mich zu sich, und es ist, als stieße man gegen eine Mauer, so steif ist sie. Hinter ihr im Wohnzimmer steht Martin und lässt hilflos die Schultern hängen. So könnte er ausgesehen haben, als er erfuhr, dass er Angie verloren hatte. In seinem Gesicht steht eine Frage, die ihm niemand beantworten kann.
7
»Eala? Bist du wach?«
Ich sehe auf mein Handy. Zehn nach zwei. Sean ist noch nicht zu Hause. Mrs Caseys Hund bellt wieder. Diesmal ist es mehr ein Geheul, das in einem jämmerlichen Winseln endet. Dad wälzt sich, seit wir um halb elf das Licht ausgemacht haben, im Bett herum. Und er spricht, nicht ununterbrochen, aber in kleinen, unerwarteten Schüben, immer wenn ich gerade am Einschlafen bin.
»Ja. Alles in Ordnung bei dir?«
»Warum bellt Argos die ganze Nacht? Denkt er, da ist jemand?«
»Nein.« Drei SMS, und ich habe keine gelesen. Morgen ist auch noch ein Tag. »Nein. Er ist nur zu groß für den winzigen Garten. Außerdem sollte er nicht dauernd angeleint sein. Er gehört auf einen Bauernhof oder jedenfalls aufs Land. Bei Mrs Casey lebt er wie im Gefängnis.«
»Sie hat sie nicht alle«, sagt Dad. »Hast du schon mal so eine dusselige Kuh von einer Frau gesehen?«
»Es ist nicht nett, so was zu sagen.«
»Auch wenn’s wahr ist?«
»Gerade wenn’s wahr ist«, witzle ich und bereue es auch gleich.
Dad kichert.
Mrs Casey ist schrullig. Mam ist in unserem Haus aufgewachsen, und die alte Frau hat schon immer im Nachbarhaus gewohnt. Trotzdem behandelt sie Mam, als wäre sie eine Fremde. Mrs Caseys Familie war mal groß im Getreidegeschäft, und sie trägt immer noch die Nase hoch, wie Mam sagt, dabei ist alles, was von der Familienherrlichkeit übrig geblieben ist, der Süßigkeitenladen. Ihr Mann Raymond starb kurz nach der Hochzeit in den späten Vierzigerjahren, und sie trägt immer noch Schwarz.
Sie ist schon über achtzig, färbt sich die Haare in den wildesten Farben – Pechschwarz, Rot oder Lavendel – und kleistert sich ohne Ende mit Make-up zu. Weil sie so dünn ist, passt sie immer noch in die Kleider, die sie als junge Frau getragen hat: Jacken und Mäntel mit eckigen Schulterpolstern, im Nacken geknöpfte Rüschenblusen und auf den dünnen Haaren thronende Hütchen.
Dad – der alte Dad – hat sich immer ein bisschen um sie gekümmert. Er war der einzige Mensch, den sie ins Haus ließ. Wenn er es nachts bei ihr poltern hörte, schaute er als Erstes am Morgen nach, ob sie gestürzt war. Er machte sich auch Sorgen über die alten elektrischen Leitungen in dem Haus, aber er konnte Mrs Casey nicht davon überzeugen, dass so was gefährlich ist. Er wechselte ihr die
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