Jimmy, Jimmy
tiefer. Ihre Besuche verwirrten und erschöpften ihn. Miss Understanding meinte, es sei wahrscheinlich der Kampf um die Erinnerung und das daraus resultierende Gefühl des Versagens und der Verwirrung, wie sie es in ihrem Psycho-Slang ausdrückte. Aber ich war mir sicher, da war noch mehr. Dass die Männer überhaupt da waren, machte ihn nervös. Er traute ihnen nicht. Jedes Mal wenn einer von ihnen wieder weg war, blieb er für längere Zeit verschlossen wie eine Muschel. Er war angespannt und schwieg, und wenn er Schritte auf dem Flur hörte, schaute er ängstlich zur Tür.
»Warum kommen diese Männer hierher, Judy?«, fragte er eines Tages.
»Sie sind deine Freunde«, sagte Mam mit ihrer geduldigen Nein-das-ist-nicht-zu-verrückt-um-wahr-zu-sein-Stimme. »Sie vermissen dich.«
»Sie sollen nicht mehr kommen«, sagte er. »Vor allem dieser Martin.«
Wir verstanden es nicht. Wir verstehen es immer noch nicht. Martin Davis stand ihm von allen seinen Freunden am nächsten. Es war eine Art Freundschaft über Kreuz: Martin und Mam kennen sich seit ihrer Schulzeit. Als Mam und Dad sich kennenlernten, gehörte Martin zu der Clique, mit der sie was unternahmen, wenn sie am Wochenende von Dublin hierherkamen. Als sie dann ganz hierherzogen, nahm Martin Dad zum Fußballspielen mit, und sie wurden das Innenverteidigerpaar ihrer Mannschaft. Die Leute dachten immer, sie wären Brüder, weil sie beide diese blasse Hautfarbe und schwarze Haare hatten. Nachdem die anderen vermeintlichen Freunde ihn im Stich gelassen hatten, war Martin der Einzige, der zu ihm hielt.
Mam muss sich beschissen gefühlt haben, als sie ihm die Situation erklärte. Und es traf ihn hart. Martin fährt einen dicken Mercedes und ist wohl ziemlich reich, aber wie Mam sagt: Wenn du deinen besten Freund verlierst, wirst du wieder zum Kind. Nachdem er Bescheid wusste, kam er nicht mehr so oft ins Krankenhaus, und wenn, blieb er nie lange. Er war noch nicht hier, seit Dad vor zwei Wochen nach Hause gekommen ist. Gestern Abend erzählte mir Mam, dass er heute Abend kommen will.
»Meinst du, er und Kathleen wären vielleicht noch zusammen, wenn Angie nicht gestorben wäre?«, fragte ich sie.
»Wer weiß«, sagte sie. »Fest steht, dass er nie über Angies Tod weggekommen ist. Er hat sich in die Arbeit gestürzt, um nicht daran zu zerbrechen. Er hat versucht, den schrecklichen Verlust seiner Tochter zu vergessen, aber vielleicht hat er Kathleen darüber auch vergessen.«
Angie Davis wurde im selben Monat und Jahr geboren wie ich und starb zwei Wochen nach ihrem zweiten Geburtstagan Leukämie. Ich erinnere mich nicht an sie und auch nicht daran, dass ich immer wieder nach ihr gefragt habe, wie Mam und Dad später erzählten. Aber wo andere Kinder einen unsichtbaren Freund hatten, scheine ich Angie gehabt zu haben. Manchmal, wenn ich was Verbotenes getan hatte und Ärger drohte, behauptete ich, sie sei’s gewesen. Ich erzählte Mam, Angie habe mich angestiftet, die Wände vollzumalen oder Würmer vom Garten ins Haus zu schleppen und im Waschbecken schwimmen zu lassen. Solche Sachen. Mam versuchte mich dazu zu bringen, mir eine andere unsichtbare Freundin auszudenken, aber ich wollte nicht.
Aus Gründen, die ich nicht kenne, ist, seit Dad wieder im Haus ist, Angie zurück. Ich habe sogar ein Bild, eine Vorstellung von ihr. Sie sieht ein bisschen aus wie ich, dunkelhaarig, nur hübscher – und größer, was allerdings kein Kunststück ist. Außerdem ist sie klüger. Und wilder und tougher. Ich stelle mir vor, wie sie mich auffordert, lockerer zu werden, optimistischer, erwachsener. Ich bin mir sicher, sie hätte mich davon abgehalten, bei dem uncoolen Musical mitzumachen. Oder wenigstens hätte ich mich gegen die bescheuerte rote Lockenperücke gewehrt. Ich sehe Angie vor mir, wie sie Typen wie Brian verfrühstückt und wieder ausspuckt, wenn sie genug von ihnen hat.
Aber von der Anspannung vor dem heutigen Abend kann mich nicht mal Angie ablenken. Es ist, als wäre es der nächste Test für Dad. Wird er über sein merkwürdiges Misstrauen gegenüber Martin und überhaupt gegenüber Männern hinwegkommen? Wären da nicht die Fortschritte, die er seit seiner Rückkehr gemacht hat, hätte ich nicht viel Hoffnung. Aber wenn ich ehrlich sein soll, bin ich auch wegen dieser Fortschritte so angespannt. Der Punkt ist, dass ich daran wenig bis gar keinen Anteil habe. Monatelang hatte ich mir vorgestellt, was ich alles für Dad tun würde. Was ich alles mit ihm
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