Joe Golem und die versunkene Stadt
Churchs kultiviertem, melodischem Ton ab.
Molly erstarrte. »Wie anders?«
Joe war aus der Liftkabine getreten, und Molly hatte ihm folgen wollen, doch jetzt musterten er und Mr. Church sie aufmerksam.
»Was ist?«, fragte Mr. Church. »Was ist Ihnen gerade in den Sinn gekommen?«
»Ich glaube nicht, dass es wichtig ist.«
»Kam er aufgeregt wieder, als hätte er ’n Geheimnis erfahren?«, fragte Joe.
»Der Friedhof …«, begann Molly.
Mr. Church schüttelte den Kopf und trat, begleitet von Ölgeruch und dem gedämpften Rattern eines Mechanismus, aus dem Fahrstuhl. »Wir sind am Grab seiner Mutter gewesen.«
»Ich glaube nicht, dass er nur das Grab seiner Mutter besucht«, sagte Molly leise.
Dabei fühlte sie sich, als würde sie ihren besten und einzigen Freund verraten.
Nun hatten beide Männer den Aufzug verlassen und starrten Molly an. Sie kam sich vor, als säße sie in der Falle.
»Das solltest du lieber erklären«, sagte Joe.
Molly zuckte mit den Schultern. »Man müsste schon die ganze Zeit mit ihm zu tun haben, um es zu bemerken, aber Felix geht es nicht gut.«
»Er ist nicht mehr der Jüngste«, sagte Mr. Church so selbstverständlich, als entginge ihm die Ironie dieser Feststellung.
»Das ist nicht alles«, erwiderte Molly. »Er macht Phasen durch, in denen er sehr schwach und bleich ist. Wenn es ihm am schlimmsten geht, zieht er hinaus nach Brooklyn Heights. Sobald er wiederkommt, ist er wieder gesund. Er ist noch immer ein alter Mann, aber er ist kräftiger und nicht mehr so blass. Er lacht und erzählt Witze und versucht mir Kartentricks beizubringen.«
Bei den letzten Worten brach ihr vor innerer Bewegtheit die Stimme. Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Interessant«, sagte Mr. Church, als hätte er ihren Schmerz und ihre Zerrissenheit nicht bemerkt. »Irgendetwas dort frischt seine Lebenskraft auf.«
»Das Pentajulum?«, fragte Joe. »Aber wir haben den Friedhof danach abgegrast.«
»Ja, in der Nähe vom Grab seiner Mutter«, entgegnete Mr. Church. »Aber das Areal ist riesig. Das Pentajulum könnte sich überall auf dem Gottesacker befinden.«
»Ich bin ihm mal gefolgt«, sagte Molly. »Er besucht wirklich das Grab seiner Mutter, aber mindestens die Hälfte der Zeit verbringt er woanders, unter einem großen alten Baum. So einen Baum habe ich noch nie gesehen. Er wächst direkt aus einem Grab heraus.« Molly runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Also, Sie wollen ja wohl dieses Pentajudingens haben. Aber Sie sagten auch, Sie würden mir helfen, Felix zu finden.«
»Und das werden wir«, versprach Mr. Church. »Wir versuchen nicht als Einzige, Lectors Pentajulum zu finden. In dieser Stadt ist noch jemand am Werke – ein Diener der Finsternis. Ich glaube, er hat heute Morgen diese Geschöpfe ausgesandt, damit sie Ihren Freund entführen. Er will Felix Orlov in die Hände bekommen, weil er glaubt, dass Felix weiß, wo das Pentajulum zu finden ist.«
Dampfwölkchen stiegen Mr. Church aus den Nasenlöchern, als er eine Hand in die Aufzugkabine streckte.
»Begleiten Sie mich.«
Molly nahm Mr. Churchs Hand und ließ sich von ihm führen. Seine Finger fühlten sich rau und trocken, aber eigentümlich warm an. Sie hielten Mollys kleine Hand sanft umfasst, während Mr. Church sie durch einen kurzen, nur wenige Schritte langen Gang zu einer großen Holztür führte, die mit Eisenbändern beschlagen war.
Beide warteten, als Joe das Schnappschloss öffnete und die knarrende Tür aufzog. Ein feiner kalter Nebel quoll aus der Öffnung. Molly wurde durch diesen hellen Dunst geführt und gelangte in eine kleine, kreisrunde Steinkammer. Ihr fröstelte, weil die Temperatur plötzlich gefallen war, und einen Augenblick fragte sie sich, wie der Raum so kühl gehalten wurde. Dann blinzelte sie den Nebel fort und sah die Kammer in ihrer Gesamtheit.
»Wo sind wir hier?«, fragte sie, die Augen weit aufgerissen.
Über ihren Köpfen schien Licht durch eine vielfach unterteilte Kuppel aus dunkel getöntem Glas. Sie erinnerte Molly an Zeichnungen von Insektenaugen, die sie einmal gesehen hatte. Auf der einen Seite der Kammer ragten Rohre aus dem Boden, verzweigten sich und liefen in komplizierten Anordnungen über die gekrümmten Wände. Doch es war besonders die gegenüberliegende Wand, die Mollys Aufmerksamkeit auf sich zog. Dort stand unbeaufsichtigt eine komplizierte Maschinenanlage. In die Anordnung bizarrer Instrumente führten so viele Rohre
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