Joe Golem und die versunkene Stadt
Nach jener Nacht wurde sie in ein Sanatorium gebracht. Kurz nach Felix’ Geburt nahm sie sich das Leben.«
»Das ist ja furchtbar!«, rief Molly bestürzt. »Ich habe nichts davon gewusst. Felix hat nie etwas gesagt.«
Joe klopfte auf die Lehne ihres Sessels. »Du hast gesagt, du kennst die Geschichte schon.«
Molly zog die Arme um die Schultern. Plötzlich erschien ihr der Raum eisig kalt. »Felix hat öfter einen Traum. Seinen wiederkehrenden Traum nennt er ihn. Er sagt, dass er sich in diesem Traum jedes Mal wie ein Gespenst vorkommt und alles nur beobachten, aber nichthelfen kann. Die Einzelheiten ändern sich. Manchmal kommt das Baby raus und ist ein Monster. Manchmal passiert es in einer Kirche, und manchmal sind sie draußen auf einer Lichtung im Wald. Die letzten paar Male, wo er mir den Traum beschrieben hat, waren sie in einem Raum unter Wasser. Er konnte die Fische sehen, die vor den Fenstern vorbeischwammen. Aber einige Dinge sind im Traum immer gleich. Die schwangere Frau. Der Gesang. Und Lectors Pentajulum.«
Mr. Church setzte sich so rasch auf, dass ihm Rauch aus den Nasenlöchern pfiff. Molly hörte, wie sich in seiner Brust irgendetwas Schweres verschob.
»So hat er es genannt?«, fragte Mr. Church eindringlich. »Er hat wirklich diese Wörter benutzt?«
Molly zögerte. Sie wollte die Hilfe dieser Männer bei der Suche nach Felix, doch irgendwie hatte sie das Gefühl, ihn zu verraten, wenn sie so von ihm sprach.
»Er wusste nicht, wozu es da war«, sagte sie. »Seinen Zweck, meine ich. Aber er kannte den Namen.«
Mr. Church wandte sich Joe zu. »Er muss mehr wissen. Wenn jemand das Pentajulum finden kann, dann Orlov. Er ist auf irgendeine Weise damit verbunden.«
»Sie haben es nicht?«, fragte Molly. »Warum haben Sie es in der Nacht, nachdem Sie Golnik erschossen hatten, nicht einfach mitgenommen?«
»Glauben Sie etwa, ich hätte nicht danach gesucht?«, erwiderte Mr. Church. »Einen derart gefährlichen Gegenstand? Ich hätte ihn niemals dort gelassen, wo er wieder jemandem in die Hände fallen konnte. Doch als der Okkultist tot am Boden lag und seine Anhänger davonliefen, fand sich keine Spur von dem Pentajulum. Ich nahm an, einem von ihnen müsse es gelungen sein, sich damit aus dem Staub zu machen.«
»Ich kapier das nicht«, sagte Joe. »Wenn Orlov dauernd von dieser Nacht träumt, wieso geht der Traum dann immer anders?«
Mr. Church blickte betroffen drein, und die Furchen in seinem Gesicht vertieften sich. »Ich weiß es nicht.«
Molly wischte sich über die Arme, als wären die Spinnen, die sie auf ihrer Haut krabbeln spürte, echt und nicht bloß eingebildet.
»Nichts davon erklärt, wieso Sie noch immer an Felix interessiert sind. Er ist jetzt ein alter Mann.«
»Ich habe Felix mein Leben lang im Auge behalten«, sagte Mr. Church. »In der Nacht, in der ich Golniks Ritual unterbrach, spürte ich im Raum etwas, das völlig anders war als alles, was ich jemals zuvor gespürt hatte … eine so bösartige und gewaltige Präsenz, dass allein der Gedanke daran Angst in mir auslöst, und das bis zum heutigen Tag.«
Molly nickte, und ein Schauer des Unbehagens durchrieselte sie. »Felix sprach auch immer davon.«
Joe schüttelte den Kopf. »Er kann unmöglich ’ne Erinnerung an die Präsenz in dem Raum gehabt haben. Er war ja noch nicht mal geboren.«
»Dann ist es keine Erinnerung«, erwiderte Molly. »Aber wenn er diese Träume hat, spürt er die Präsenz. Er hat einmal zu mir gesagt, so müsste sich eine Puppe fühlen, wenn sie der Welt außerhalb des Puppenhauses gewahr würde.«
Mr. Church und Joe tauschten einen Blick, und der alte Detektiv nickte nachdenklich.
»Eine treffende Beschreibung«, sagte Mr. Church.
»Aber wenn das alles Felix’ Mutter passiert ist, warum träumt er dann davon?«, fragte Molly.
»Was Andrew Golnik der armen Cynthia Orlov angetan hat, hätte ausgereicht, um jeden zu traumatisieren, aber sie in den Wahnsinn treiben?«, sagte Mr. Church. »Ich vermute, dass Miss Orlovs Wahnsinnund ihr letztendlicher Suizid nicht durch ein natürliches Trauma verursacht wurden, sondern durch diese boshafte Präsenz. Ich habe Felix in all den Jahren beobachtet, weil ich erfahren wollte, welche Auswirkungen es auf ihn hat, dieser Finsternis und der geheimnisvollen Kraft, die dem Pentajulum innewohnt, ausgesetzt gewesen zu sein.«
Joe beugte sich im Sessel vor. »Felix ist sein Leben lang Zauberer gewesen. Große Magie, kleine
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