Jones, Susanna
nützte sie ein paar Sekunden vor dem Ereignis, sodass gar keine Zeit blieb, wegzulaufen oder sich zu verstecken?
Heute Nacht könnte mein Bett auf dieser Polizeiwache stehen. Was für Geräusche werde ich hören? Sirenen vielleicht, Polizeiklatsch. Betrunkene, die eingebuchtet werden. Ich hatte mir vorgestellt, im Inneren einer Polizeiwache sei es dunkel. Ist es nicht, aber ich wollte, es wäre so. Dieses Zimmer ist fürchterlich hell. Meine Augen sind müde, und ich würde gern ein bisschen schlafen.
Am Morgen machte ich Tee und stellte ihn auf den Boden neben Lilys Kopf.
«Danke. Hmmm, ich hab wie ein Klotz geschlafen. Ich glaube, ich bin nicht ein Mal wieder aufgewacht, nachdem ich den Kopf aufs Kissen gelegt hab.»
«Wenn man vom Erdbeben absieht.»
«Erdbeben? Gab's letzte Nacht einen Erdstoß? Ich muss ihn verschlafen haben.»
«Nein, du warst wach. Wir beide.»
«Dann muss ich aber direkt wieder eingeschlafen sein. Ich weiß von nichts mehr.»
Es ist leicht, Dinge zu vergessen, die mitten in der Nacht passieren, wenn man halb schläft. Ich fand es allerdings seltsam, dass sie keinerlei Erinnerung daran hatte, aus dem Bett aufgestanden zu sein und sich unter dem Tisch versteckt zu haben, keinerlei Erinnerung an unser Gespräch über den Erdbebenvogel.
Wir liefen zusammen zum Bahnhof. Sie war munter und aufgekratzt und sprach mit keinem Wort von der vergangenen Nacht oder von Andy. Dann fuhr ich mit dem Zug zur Arbeit und sie nach Hause, um sich umzuziehen, bevor sie sich auf den Weg in die Bar machte.
Im Büro fand ich auf meinem Schreibtisch einen Brief vor. Auf dem Umschlag klebten britische Marken, aber die runde, ordentliche Handschrift kam mir nicht bekannt vor. Der einzige Mensch in Großbritannien, der meine Büroadresse wusste, war Lizzie. Wir schrieben uns nie Briefe, und ich hatte keine Ahnung, was sie mittlerweile machte. Alle paar Jahre schickten wir uns zu Weihnachten eine Karte mit nichts als einer Unterschrift. Lizzies Handschrift war allerdings lang gezogen und krakelig. Einen idiotischen Moment lang dachte ich, der Brief käme von Lilys Freund, aber er konnte unmöglich wissen, wer ich war oder wo ich arbeitete.
Ich riss das Kuvert auf und holte den Brief heraus. Ich starrte mehrere Sekunden lang auf die Unterschrift, bevor ich imstande war, die ganze Seite zu lesen. Er war von Jonathan, dem zweitjüngsten meiner verbleibenden Brüder. Ich hatte schon seit vor meinem Umzug nach London von keinem der Brüder mehr was gehört. Der Anlass dieses Briefes konnte eigentlich nur eine Schnapsidee oder ein Todesfall sein.
Liebe Lucy,
es ist sehr lange her, dass einer von uns Nachrichten von dir erhalten hat. Uns geht es allen gut, und wir hoffen, dir ebenso.
Deine alte Schulfreundin Lizzie hat mir diese Adresse gegeben, und ich hoffe, dass dich dieser Brief erreicht. Ich habe sie neulich zufällig in Waterloo Station getroffen. Sie ist beruflich sehr erfolgreich, in irgendeiner leitenden Stellung bei der BBC, aber vielleicht weißt du das schon. Ich erinnere mich, dass ihr beide euch früher sehr nahe standet.
Mama geht neuerdings nicht mehr viel aus dem Haus. Ihre Arthritis macht ihr sehr zu schaffen, geistig ist sie allerdings so klar wie eh und je. Meine Frau Felicity sieht jeden Dienstag und Sonntag nach ihr und bringt ihr bei der Gelegenheit einen Schmorbraten oder Apfelkuchen mit Streuseln und Vanillesauce vorbei. Es wird dich überraschen zu erfahren, dass Mama sich neuerdings mit recht gutem Erfolg dichterisch betätigt und auch schon einige Proben ihrer Kreativität im örtlichen Recorder veröffentlicht hat. Wie du dir vorstellen kannst, sind wir alle sehr stolz auf sie.
Auch in meinem Leben sind einige Veränderungen eingetreten. Vermutlich wirst du sie nicht als Veränderungen erkennen können, da du nicht weißt, was ich vorher gemacht hatte. Gestatte mir, dich kurz ins Bild zu setzen. Ich hatte vor mehreren Jahren die polizeiliche Laufbahn eingeschlagen und freute mich schon auf eine Beförderung, als mein ganzes Leben eine dramatische Wendung nahm. Ich habe nämlich Gott gefunden. Es geschah ganz plötzlich und unerwartet, ab ich gerade einen Rosenstrauch stutzte und eine wunderschöne Amsel neben mir die Wand entlang hüpfen sah. Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, dass solch ein vollkommenes Geschöpf von jemandem erschaffen worden sein musste und nicht lediglich eine Laune der Natur oder das Produkt der so genannten Evolution sein konnte. Außerdem schienen wir
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