Jones, Susanna
Mordsteedurst. Aber im Ernst, wenn du damit rechnest, dass Teiji später noch vorbeikommt, nach der Arbeit...»
Bildet sich Lucy das nur ein, oder fragte Lily an dem Abend wirklich so oft nach Teiji?
Ich machte Tee und trug ihn herein. Lily konnte ihren nicht ohne wenigstens zwei gehäufte Löffel Zucker trinken und
musste zum Laden an der Ecke flitzen, um welchen zu kaufen. Ich hab nie Zucker im Haus. Wenn's hoch kommt, esse ich ein-, zweimal im Jahr etwas Süßes.
Zwischen den einzelnen Schlucken blies ich leicht über den heißen Tee. Lily schien sich wegen Andy beruhigt zu haben und sah ein, dass sie in Tokio sicher war.
«So sicher, wie man überhaupt irgendwo sein kann.» Sie schluckte den Tee hinunter wie ein Kind, das Milch trinkt.
«Genau. Also hat's keinen Zweck, sich verrückt zu machen.»
«Ja. Lucy?»
«Was?»
«Ich weiß, dass es dumm von mir ist, aber ich will heute Nacht nicht in meiner Wohnung schlafen. Ich weiß, dass er nicht kommt, es ist bloß, ich bin jetzt völlig zappelig und kann bestimmt nicht einschlafen. Ginge das, dass ich über Nacht hier bleibe?»
Ich hatte überhaupt nichts dagegen. Extrabettzeug war da. Meine Wohnung hatte an dem Abend durch die Kissen, den Tee und die vertraulichen Gespräche eine ungewohnte Gemütlichkeit gewonnen. Ich wusste schon jetzt, wenn Lily ging, würde ich mich plötzlich allein fühlen und meine Wohnung wieder kahl werden. Ich hatte Teiji seit sieben Tagen nicht gesehen. Konnte im Lokal nicht weg. Die vergangenen Nächte waren lang und einsam gewesen. Die dumme hässliche Lucy hatte unruhig in ihrem kalten Bett geschlafen. Jedes Mal, wenn sie im Laufe der Nacht aufgewacht war, hatte sich das Gefühl, sie habe Teiji irgendwie dazu gebracht, sie nicht mehr zu lieben, aufs Neue eingestellt und sie wie ein Tritt in den Magen getroffen.
Wir holten die Futons aus dem Schrank und breiteten sie nebeneinander aus. Wir legten uns Rücken an Rücken und schliefen ein. Ohne irgendwelche Störungen hätten wir bestimmt bis zum Morgen durchgeschlafen, aber es kam anders. Mitten in der Nacht gab es einen plötzlichen Ruck. Die Wände zitterten, und eine der Teetassen glitt vom Tisch und rollte über den Fußboden. Ich setzte mich auf, rieb mir die Augen und sah, dass Lily bereits unter meinem Schreibtisch hockte. Die Straßenlaterne leuchtete durch das Fenster herein und tauchte sie in ein gelbes Licht. Sie presste sich die Knie mit beiden Armen fest gegen die Brust. Ihre Augen waren zugekniffen, die Lider schrumpelig wie Rosinen. «Lily. Ist alles in Ordnung?» «Ich hab Angst.»
«Ist kein besonders Schlimmes.» Ich schwieg kurz. «Ich glaub, es ist schon vorbei.» Der Fußboden bebte noch einmal. «Was ist das für ein Geräusch?»
Bis sie davon sprach, hatte ich nicht darauf geachtet. Dann wurde mir bewusst, dass das Geräusch schon die ganze Zeit vor dem Aufwachen irgendwo in meinem Schlaf da gewesen war. «Der Erdbebenvogel.» «Der was?»
Als ich hinhörte, verstummte das Geräusch, und ich wusste, dass das Zimmer aufgehört hatte, sich zu bewegen.
«Ich weiß nicht, was es ist. Es ist immer da, wenn es bebt. Früher dachte ich, es ist irgendein Metallteil, das gegen etwas schlägt. Aber es ist zu weit weg, um etwas zu sein, was sich unten auf der Tankstelle bewegt. Teiji meint, es ist ein Vogel, irgend so ein Nachtvogel, der durch die Erschütterung von seinem Ast fällt.»
«Klang wie ein Stiefel, der gegen eine Blechbüchse tritt, irgendwo weit weg.»
«Wer sollte wohl jedes Mal, wenn es zufällig ein Beben gibt, vor meinem Fenster gegen eine Blechbüchse treten?» «Gutes Argument.»
«Es ist nur - sobald ich genauer hinhöre, um herauszufinden, was es ist, werde ich mir unsicher. Es ist nicht leicht, so mitten in der Nacht. Und sobald ich wach genug bin, um mich zu konzentrieren, ist es weg. Wenn du und Teiji das nicht auch gehört hättet, würde ich meinen, ich hätte es nur geträumt.»
Eines erzählte ich Lily über den Erdbebenvogel allerdings nicht - etwas anderes, das mir aufgefallen war. Er fing nicht gleichzeitig mit dem Beben an, sondern unmittelbar davor. War das ein Traum? Falls ja, war es immer der gleiche. Wie konnte der Vogel oder die Blechbüchse oder der Stiefel wissen, dass es gleich ein Erdbeben geben würde? Ich zerbrach mir oft den Kopf darüber. Natürlich konnte ich mich täuschen. Nichts ist gewiss mitten in der Nacht. Aber wenn ich Recht hatte, war es eine Warnung oder ein Symptom? Und wenn es eine Warnung war, was
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