Jones, Susanna
ansteckend, denn als wir zum Büro zurückgingen, fühlte ich mich etwas beschwingter.
Mit der Rollstuhlübersetzung wurde ich am Abgabetag fertig. Ich fuhr nach Haus und rief Teiji an in der Hoffnung, ihn bald zu sehen. Er konnte nicht ans Telefon kommen. Er war beschäftigt und würde die nächsten paar Wochen jeden Abend bis spät im Restaurant arbeiten. Ich war bitter enttäuscht. Ich fragte mich, ob er wirklich so viel zu tun hatte oder ob er noch immer daran denken musste, wie Lucy seine Kartons aufgemacht, seine Fotos angeschaut hatte. Oder an Sachi. Hatte ich sie vielleicht dadurch, dass ich sie von ihrem Platz in der Mitte des Stapels entfernt und ans Licht gezerrt hatte, wieder zurückgeholt? War er jetzt mit Sachi zusammen, oder in Gedanken bei ihr?
Aber vielleicht tat ich ihm ja Unrecht. Ich hatte im Büro gerade genauso lange unter Dauerstress gestanden. Es bestand kein Grund, warum Teiji nicht auch gelegentlich hart arbeiten müsste. Ich saß, einsam und gelangweilt, in meiner Wohnung herum und versuchte, nicht an Jonathan, Felicity oder Miriam in ihrem alten, alten Sessel mit ihrem Apfelstreuselkuchen zu denken. Ich fragte mich, ob ich Lily anrufen sollte.
Und das Telefon klingelte. Es war Lily. Sie rief an, um mir zu sagen, dass sie Ende des Monats Japan verlassen würde.
«Warum?»
«Ich gehör nicht hierher. Ich sollte wieder nach Haus und mein Leben in die Hand nehmen. Ich muss wieder als Schwester arbeiten. Als Barbedienung tauge ich wirklich nichts. Alles läuft schief.»
«Aber was ist mit Andy?»
«Er braucht mir ja nicht unbedingt über den Weg zu laufen.»
«Klar wird er. Was redest du da eigentlich? Du willst dir doch nicht etwa wieder dieselben Probleme aufhalsen, die du gerade hinter dir gelassen hast, oder?»
«Vielleicht bin ich zu streng mit ihm gewesen.» Sie sprach mit einer leisen, leicht schmalzigen Stimme. «Er fehlt mir ein bisschen. Solang ich nicht an ihn gedacht hab, ging's mir ganz gut, aber jetzt, wo ich's tu, krieg ich ihn nicht mehr aus dem Kopf. Auf einmal hab ich richtiges Heimweh gekriegt, und ich will wieder zurück. In Tokio werde ich mich nie zu Hause fühlen.»
«Ganz wie du willst.» Ich knallte den Hörer auf und fragte mich, warum ich mich so aufregte. Das ging mich alles gar nichts an. Ich hätte mich eigentlich freuen sollen, sie loszuwerden.
Die Sache war die, dass ich mich daran gewöhnt hatte, sie um mich zu haben. Neben ihr fühlte ich mich kompetent, in Tokio zu Hause, intelligent. Und noch etwas anderes. Wenn ich nachts allein war und die Augen schloss, erinnerte ich mich immer an den Moment, als ich in den Bergen gestürzt war, an den stechenden Schmerz im Knöchel. Diese Erinnerung leitete dann zu tieferen Gedanken über, an all die Menschen, die ich schon verloren, die Katastrophen, die ich verursacht hatte. Und dann kam das Gefühl von Lilys Fingern an meinem Fuß, und alles wurde wieder gut. Ihre warmen Krankenschwesterhände wiegten mich lindernd in den Schlaf, und sollte ich je wieder fallen, würden sie da sein. Ich wollte nicht, dass sie ging.
Aber meine Motive waren nicht ausschließlich eigennütziger Natur. Beim Gedanken an Lilys Rückkehr nach Hull und zu Andy wurde ich stellvertretend depressiv, denn Lucy ist unfähig, von jemandes Plänen zu erfahren, ohne sie in der Vor-
Stellung selbst zu realisieren. Wie ich es im Kopf auch drehte und wendete, Andy und Lily war ein böses Ende vorbestimmt. Lily hatte die Freiheit gekostet, und die Rückkehr in die Gefangenschaft würde niemals gut gehen. Nein, das war ein schlechter Plan, und somit würde es Lucys Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass Lily in Japan blieb - zumindest noch ein Weilchen.
Mir kam eine Idee. Die Vorstellung eines Ortes. Konnte es für Lucy und Lily in Japan ein besseres Reiseziel geben als den Ort, an den ich gerade gedacht hatte? Diese zerklüftete Insel im Nordwesten hatte jahrhundertelang als Verbannungsort für Verbrecher und politisch unerwünschte Elemente gedient. Sie war wie geschaffen für diese zwei neuzeitlichen Verbannten. Ich rief sie zurück.
«Fahr mit mir nach Sado.»
«Wohin?»
«Das ist eine Insel im Japanischen Meer. Ich hab schon immer da hinfahren wollen, und jetzt tu ich's. Komm bitte mit. Es ist schön da - ich hab darüber gelesen -, haufenweise Tempel und klares blaues Meer, und Frau Katoh, meine Freundin, die Bratsche spielte, stammte von dort, und ich hab seither immer irgendwann mal da hinfahren wollen. Wir könnten auch eine Zeit
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