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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Erde bebt
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wieder zusammen sein würden. Der einzige Mensch, mit dem ich redete, war Natsuko. Auch sie hatte viel zu tun, aber wir verbrachten immer unsere Mittagspause zusammen und tauschten Klagen über Wörterbücher und schlecht gezeichnete Diagramme aus.
    Einmal, während einer solchen Lunchpause, schlug Natsuko einen kurzen Spaziergang vor.
    «Ich möchte dir etwas zeigen», sagte sie.
    Das war einer meiner Lieblingssätze. Es störte mich nicht, dass dieses Etwas sich unter Umständen als gar nichts oder als etwas Unerfreuliches erwies. Die bloßen Worte reichten aus,
    um in mir ein köstliches Gefühl auszulösen, das mich an einen langsam dunkler werdenden Zuschauerraum erinnerte - das Kribbeln, bevor es losging.
    Ich folgte Natsuko hinaus auf die Straße und hüpfte beinah beim Gehen. Die Straßen waren überfüllt. Shibuya ist zu jeder Tageszeit, an jedem Tag der Woche ein einziges Gewimmel von Teenagern. Da kommt man sich als Vierunddreißigjährige direkt wie eine Greisin vor. Warum waren diese Kids nie in der Schule? Wir schoben uns durch Fluten von Keilabsätzen und pinkfarbenen Handys, bis wir in einer kurzen Seitenstraße wieder Luft bekamen. Hier gab es nur zwei kleine Läden. Der eine verkaufte Topfpflanzen, der andere zeitlos-gediegene Mode. Abgesehen davon war es ein ruhiges, stilles Wohnviertel. Apartmenthäuser neben alten Garagen neben Einfamilienhäusern.
    «Es wird dir bestimmt gefallen.» Natsuko war sich in allem, was sie sagte, ihrer Sache sicher. Und ihre Selbstsicherheit ist immer berechtigt. Ich habe noch nie erlebt, dass sie sich getäuscht hätte - auch wenn ich sie jetzt vor mir sehen kann, wie sie sich über meine Rolle bei Lilys Tod Gedanken macht. «Ich habe das letzte Woche entdeckt. Ich war hier in der Gegend, weil ich einen Frisör suchte, von dem mir jemand erzählt hatte, aber ich konnte ihn nicht finden. Trotzdem bin ich froh, dass ich mich verlaufen habe. Schau.»
    Sie hatte sich auf einen umgedrehten Eimer gestellt, der auf der Straße stand, und spähte über den Rand der steinernen Umfassungsmauer eines Privatgartens. Sie starrte ein, zwei Minuten lang hinüber und sprang dann herunter.
    «Jetzt du.»
    Vom Boden aus konnte ich sehen, dass in dem kleinen Garten ein paar zerzauste Kiefern standen. Durch einen Spalt in der Mauer konnte ich rosa und weiße Blüten erkennen. Eine rötlich gelbe Katze kam herangeschlendert und rieb sich an meinen Beinen, sah zu mir auf, miaute. Ich streichelte sie, bis
    es ihr langweilig wurde und sie sich von Natsuko Zuwendung holen ging. Ich stieg auf den Eimer.
    In der Mitte des Gartens stand ein Kamelienbaum. Er trug blankes grünes Laub und blassrosafarbene Büschel von Blütenblättern, die so aussahen, als ob durch winzige Kapillargefäße Blut hineingepumpt würde. Seine dunklen Äste waren so schön gebogen, ihr Abstand voneinander so makellos bemessen, dass er wie ein Baum aus einem Märchenbuch aussah, ein Baum, der seltsame, magische Eigenschaften offenbaren würde, sobald man an einem Ast rieb oder an einem Blatt knabberte.
    «Ich habe noch niemals einen so schönen Kamelienbaum gesehen.» Natsuko hatte ein Auge und die Nase an den Riss in der Mauer gepresst. «Ich könnte den ganzen Tag hier stehen und ihn anschauen.»
    Lucys Beziehung zu Bäumen ist nicht immer ungetrübt gewesen, aber es wäre nicht fair, wegen der Verbrechen eines einzelnen alle zu verurteilen.
    «Er ist wunderschön.» Ich betrachtete ihn noch etwa eine Minute lang. Das Bild des Baums wird mir immer im Gedächtnis bleiben, nicht so sehr, weil er schön war - und das war er wirklich -, sondern weil er Natsuko so unglaublich glücklich machte und weil sie mich zu ihm geführt hatte, damit ich ihn auch sah.
    «Danke, dass du mich hergebracht hast.» «Gern geschehen. Wenn ich jemals ein eigenes Haus besitze, dann möchte ich im Garten einen Baum wie diesen haben. Wahrscheinlich würde ich dazu dieses Haus kaufen müssen. Es kann keinen anderen Baum genau wie diesen geben. Ich würde allerdings gern versuchen, einen zu finden. Aber wenn ich diesen Baum hätte, wäre ich für immer glücklich. Wenn ich diesen Baum hätte, würde ich mir nichts anderes mehr wünschen.»
    Wie Lucy schon erwähnt hat, ist Natsuko die geborene Läch-
    lerin, aber während dieses kurzen Urlaubs von unserem engen Büro bezog ihr Lächeln ihr gesamtes Gesicht ein: Mund, Augen, Jochbeine, Nase und Kinn. Sogar ihr elastischer Pony hatte einen besonderen, zusätzlichen Schwung. Ich glaube, das war

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