Jones, Susanna
nicht besaß, aber ich gab immer mein Bestes. Bei pikantem chinesischem Essen erzählte er mir von seinem Plan, ein Rockstar zu werden, obwohl ihm klar war, dass er sich, mit einundvierzig, langsam ranhalten musste. Er gestand mir, dass die Zahnbehandlung, die unsere Wege zusammenführte, auch zur Erreichung dieses Ziels erforderliche kosmetische Eingriffe umfasst hatte. Ich hatte ihn noch niemals singen hören, und so konnte ich ihm an diesem Abend keinen Rat geben.
Der Tokio-Bahnhof kam und ging rasch. Hier liefen viele Eisenbahnlinien zusammen, ununterscheidbar, eine Reihe namenloser Soldaten, die platt in ihren Särgen lagen. Ich konnte nicht erkennen, welche davon die Yamanote-Linie war, aber als die Gleise sich wieder auseinander fächerten, folgte ich meinem Gefühl und lag richtig. Die nächsten Lichter und Bahnsteige waren die von Kanda.
Spätestens beim neunten oder zehnten Bahnhof erschien es unsinnig, denselben Weg wieder zurückzulaufen. Ich marschierte weiter. Akihabara, Electric Town, wo Teiji sich mit mir Kameras angeschaut, aber dann doch keine gekauft hatte, ungewohnt ruhig bei Nacht. Ameyoko, wo ich mit Natsuko hinging, um auf dem riesigen Markt billig Lebensmittel einzukaufen. Es war still, aber ich konnte fast die Stimmen der bärbeißigen Männer hören, die tagsüber lautstark ihre Ware anpriesen, kalt-glitschige Kalmare, Fische, Tee, Kaffee, Schuhe. Unter den Bogen der Eisenbahnbrücken yakitori-Bars, jetzt geschlossen. In Ueno der Park, wohin ich in meinem ersten Jahr gegangen war, um die Kirschblüte zu bewundern, ohne zu ahnen, dass er so mit Feiernden vollgestopft sein würde, dass ich gerade eben die höchsten Zweigspitzen zu sehen bekam. Yana-ka, der Friedhof, wo ich mich kurz hingesetzt hatte, bevor ich zu Frau Yamamoto gegangen war. Er zog sich vom Bahndamm den Hügel hinauf und noch weiter. Nachts sahen die Grabstelen wie die Silhouetten von Menschen aus, die da auf dem Hügel saßen und sich im Dunkeln Geheimnisse zuflüsterten. Dann bonbonrosafarbene «Love Hotels», die mit Preisen für eine ganze Nacht und günstigeren Tarifen für «die kurze Rast tagsüber» warben. Ich lief über die Schleife nach Ikebukuro, kam in Komagome an einem dunklen alten Schrein vorbei und näherte mich Teijis Territorium. Wenn ich mir das je auf dem Stadtplan angesehen hätte, dann wäre mir aufgefallen, dass Takadanobaba und Shin-Okubo im Nordwesten Tokios liegen, aber es besteht kein Grund, warum mich das jetzt überraschen sollte.
Stunden vergingen. Obwohl ich schon meilenweit von zu Hause entfernt war, veränderte sich die Landschaft für mich kaum, lediglich die Details im Vordergrund: Nightclubs, Love Hotels, Grabstelen, Parks, Märkte, Geschäfte, Botschaften. Das alles war in einem endlosen Korridor aus anonymen, rechtwinklig angeordneten Gebäuden und Eisenbahngleisen untergebracht. Ich sah zu Fenstern hinauf. Die meisten waren dunkel, ließen lediglich die leblosen Umrisse von Vorhängen und Jalousien erkennen. Hier und da helle gelbe Vierecke, die wie Katzenaugen leuchteten. Gelegentlich bewegte sich drinnen eine Gestalt. Ich bemühte mich dann, den betreffenden Menschen zu sehen, mir einen Eindruck von seinem Alter und seiner Kleidung, seinen Bewegungen innerhalb des Zimmers zu verschaffen. Jedes Mal fragte ich mich, wer das sein mochte. Welchen unter den Millionen von Menschen, die in dieser
Stadt, einzeln und gruppenweise in kleinen Kästchen von Privatleben und Beruf gestapelt, arbeiteten, wachten, schliefen, beobachtete ich jetzt gerade? Ich wollte diese Fremden kennen lernen, die von einem Kästchen ins nächste zogen, sich auf einem so gewaltigen Schienen- und Straßennetz kreuz und quer durch die Stadt bewegten. Ich wollte sie kennen lernen, weil ich auch so jemand war.
Manchmal verlor ich die Schienen der Yamanote-Linie aus den Augen und musste mich durch düstere Seitenstraßen schlagen, bis ich sie wieder fand. Illuminierte Getränke- und Zigarettenautomaten spendeten in dunklen Gassen und Winkeln Licht. Dann wieder konnte ich mehrere Kilometer weit gehen, ohne die Gleise aus den Augen zu verlieren. Immer weiter marschierte ich, und in den frühen Morgenstunden fand ich mich in Shinjuku wieder, nur Meter von der Stelle entfernt, wo ich Teiji zum ersten Mal gesehen hatte. Ich dachte an Sachi. Das kleine Theater, wo Teiji sie gefunden hatte, konnte ohne weiteres nur eine Straße oder einen Häuserblock von mir entfernt sein. Ich fragte mich, wie viel Zeit zwischen Sachis
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