Jones, Susanna
Bahnsteige lagen sich gegenüber. Wir nahmen jede unsere Treppe, winkten uns zum Abschied zu. Auf meinem Bahnsteig angelangt, warf ich einen Blick nach oben auf die Anzeigetafel. Noch eine Minute bis zum nächsten Zug. Ich sah an den Gleisen entlang in die Ferne. Der Zug näherte sich schon vom Kanda-Bahnhof her. Der Bahnsteig war überfüllt, und ich schlenderte auf das hintere Ende zu, wo normalerweise weniger Leute stehen. Unmittelbar bevor mein Zug einfuhr, sah ich zu Lilys Bahnsteig hinüber. Ich weiß nicht, warum ich es tat. Vielleicht ist es gar nicht anders möglich, wenn man weiß, dass jemand, den man kennt, auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig stehen müsste. Eine Anzahl von Leuten standen nebeneinander aufgereiht und warteten. Der Zug war noch nicht eingefahren. Sie hätte am selben Ende wie ich stehen müssen. Auf ihrem Bahnhof kam man von der Spitze des Zuges am schnellsten zum Ausgang. Das war außerdem der am wenigsten überfüllte Teil des Zuges. Warum konnte ich sie also nicht sehen?
Ich drängelte mich zurück, rannte gegen den Menschenstrom den Bahnsteig entlang und wieder hinein ins Bahnhofsgebäude. Ich lief durch die Passage und die Treppe hinunter zu Lilys Bahnsteig. Ich rannte von einem zum anderen Ende, während ich mich verschwommen fragte, was ich Lily sagen würde, sollte ich sie vor einem Getränkeautomaten vorfinden, wie sie sich in aller Ruhe eine Cola herauszog. Es war gar nicht nötig. Lily war nicht da.
Ich stolperte die Treppe wieder hoch. Mein Rucksack knallte mir dauernd gegen den Rücken, blieb an den Schultern und den Gepäckstücken von Entgegenkommenden hängen. Aktenkoffer schlugen mir gegen die Knie und drängten mich seitlich ab. Ich wusste nicht mit Sicherheit, wo ich sie hätte suchen sollen, aber es gab nur eine Richtung, die den Versuch lohnte. Ich schlug mich zu Teijis Bahnsteig durch. Er war menschenleer. Ein Zug war gerade abgefahren.
Ich hätte den nächsten nehmen und mich draußen vor Teijis Wohnung verstecken können, um zu sehen, ob sie da waren. Ich tat's nicht. Wenn sie zu ihm gefahren waren, würden sie die ganze Nacht da bleiben. Das behielt ich mir als letzte Möglichkeit vor. Zunächst machte ich mich wieder auf den Weg zum Ausgang der Shinkansen-Strecke, der Stelle, wo Lily und ich uns von Teiji verabschiedet hatten.
Ich pirschte mich vorsichtig an. Mit meinem wüsten Drahthaar und meinem Baumstammkörper bin ich schon von weitem leicht zu erkennen. Ich stellte mich neben einen Zeitungskiosk und spähte um die Ecke. Prompt stellte sich mir ein Kunde vor die Nase und versperrte mir den Ausblick. Die Frau im Kiosk betrachtete mich mit einem gewissen Interesse. Ich kaufte mir die Daily Asahi und ging rasch zu einer Säule vor.
Ich war zugleich befriedigt und bestürzt. Ich hatte mich nicht geirrt. Teiji und Lily standen da wie ein Liebespaar. Sie standen einander zugewandt, Lilys linker Fuß zwischen Teijis
Füßen, so nah, dass sich ihre Oberschenkel fast berührten. Teiji flüsterte irgendetwas in Lilys Mund, und sie küssten sich. Ich wollte schnell und unauffällig verschwinden, aber ein anderer, unbeherrschbarer Teil von mir wollte etwas ganz anderes. Ich stieß einen lauten Schrei aus, das einsame Geheul eines Wolfs an den Mond, und sah zu meinem Entsetzen, dass Lily und Teiji sich umdrehten und mit aufgerissenen Augen zu mir herübersahen.
Ich ließ die Zeitung fallen und rannte los.
12
Kameyama und Oguchi haben mich vergessen . Ich rapple mich hoch, gehe im Zimmer auf und ab. Die Gelenke tun mir weh. Ich räuspere mich ein paar Mal in der Hoffnung, dass jemand es draußen hört und sich erinnert, dass ich immer noch hier eingesperrt bin. Meine Unruhe rührt von dem Gefühl her, dass meine Geschichte von Lily und Teiji ihr Ende erreicht haben könnte. Natürlich stimmt das nicht. Ich würde mir etwas vormachen, wenn ich mir gestattete, an diesem Gedanken weiter festzuhalten. Das Schlimmste kommt erst noch.
Am nächsten Morgen rief ich Natsuko an und sagte ihr, ich würde die nächsten Tage nicht ins Büro kommen. Ich hatte eine Übersetzung für ein Stahlunternehmen in Arbeit - Instruktionen für die Wartung eines Hochofens -, und bis zum Abgabetermin blieb nur noch wenig Zeit. Es ging zwar gegen meine Berufsehre, aber das würde jemand anders übernehmen müssen. Natsuko wunderte sich.
«Lucy, was ist denn los? Bist du krank? Du hast noch nie auch nur einen Tag gefehlt.» Sie dachte einen Augenblick nach. «Ich wette, du hast nicht
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