Jorina – Die Jade-Hexe
trauern«, riet sie. »Im Moment müsst Ihr erst einmal gesund werden. Ein Hieb mit der Streitaxt hat Euren Kopf dermaßen erschüttert, dass ich um Euer Leben gefürchtet habe. Außerdem hat sich die Pfeilwunde an Eurer Schulter entzündet, und mit dem Wundfieber ist nicht zu spaßen!«
»Ich habe kein Recht, um ihn zu trauern. Ich habe seinen Tod verschuldet«, murmelte er, als seien ihre Worte gar nicht in seinen Verstand vorgedrungen. »Er hat sich auf die Standarte verlassen, wie er es immer getan hat ... Auf seinen Waffenbruder, auf mich ...«
Die Aufregung und die Anstrengung zusammen mit dem Wundfieber waren zu viel für ihn. Das Gesicht vor seinen Augen verschwamm, und die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Er sank in die Dunkelheit zurück, und er wehrte sich auch nicht dagegen.
Jorina seufzte und warf einen Hilfe suchenden Blick in die Runde. In der zunehmenden Dämmerung entdeckte sie nur Edwy, der wie üblich in ihrer Nähe herumlungerte. Hatte er die Worte des Ritters vernommen? Sie ignorierte sein schmieriges Grinsen und fragte sich nicht zum ersten Male, weshalb seine Wunde so komplikationslos verheilte, während die ihres Pfleglings mit jedem Tage ärger zu werden schien. Sie wagte kaum noch, ihn alleine zu lassen.
Aber nun, nachdem er zum ersten Male bei klarem Bewusstsein gewesen war und mit ihr gesprochen hatte, wollte sie fest daran glauben, dass sich die Waage zu seinen Gunsten senken würde. Es war schließlich anzunehmen, dass ein Mann von so ungewöhnlicher Erscheinung und körperlicher Stärke auch einen härteren Schädel als jeder andere Mann hatte, eine robustere Gesundheit. Mit sorgsamer Pflege würde sich bestimmt ...
»Der da wurde auch im Sumpf gefunden. Er muss mit auf den Karren, wenn er die Nacht überlebt!« hörte sie in diesem Moment die schnarrende Stimme eines Feldhauptmannes, der, von einem eifrigen Sekretär gefolgt, durch die Reihen der verwundeten Männer schritt. Sie hatte die Ankunft des Trupps gar nicht bemerkt. »He du, Mädchen! Hat dir der Mann seinen Namen gesagt?«
Jorina fuhr zusammen und schüttelte stumm den Kopf. Sie konnte indes nicht verhindern, dass der Hauptmann näher trat und den Bewusstlosen ansah. Ein herrischer Wink sorgte dafür, dass einer seiner Begleiter die Fackel in den dunklen Winkel hielt. Das Licht tanzte über die hageren Züge, die auffallende Gestalt.
»Er ist mit Sicherheit von edler Geburt, demzufolge können wir Lösegeld für ihn bekommen. Sorg dafür, dass er uns nicht wegstirbt, ehe wir seinen Namen herausgefunden haben! Weiter!«
»Weshalb ...?«
Jorina erhielt keine Antwort. Der Trupp schritt vorwärts, und der Sekretär notierte eifrig auf seinem umgehängten Schreibbrett die Befehle des Feldhauptmannes. Edwy ergriff seine Chance und schlich in scheinheiliger Hilfsbereitschaft um sie herum.
»Alle gefangenen Krieger, die für den Herrn von Blois gekämpft haben, werden in die Kerker des Herzogs nach Rennes gebracht«, erzählte er unaufgefordert. »Hast du nicht gewusst, dass man die Verwundeten bereits nach ihren Lagern sortiert hat?«
»Sie werden ihn umbringen, wenn sie ihn in ein Verlies werfen!« rief Jorina besorgt. Sie war keine weise Frau wie ihre Mutter, aber sie wusste genügend über Kopfverletzungen, um die möglichen Folgen eines solchen Transportes zu fürchten.
»Nun, einer mehr oder einer weniger, wen kümmert’s?« Edwy zuckte mit den Schultern. »Je eher du damit beginnst, dein Schicksal nicht an die hohen Herren zu hängen, desto sorgloser wirst du leben!«
»Ein schöner Christ bist du!« fuhr Jorina den Bärtigen entrüstet an. »Die Schlacht ist vorbei, es muss ein Ende mit dem Töten haben. Der hier greift im Augenblick für keinen Herrn zu seinem Schwert! Weshalb ihn also dem sicheren Tod überantworten?«
»Zum Henker«, knurrte der Söldner und zog sich frierend sein zerschlissenes Wams ein wenig enger um den mageren Oberkörper. »Was erhoffst du dir von diesem Ritter? Dass er Gefallen an dir findet, wenn er diese Hölle überlebt? Glaub einem Mann, der seinesgleichen kennt: Du bist eine Magd, für jemanden wie ihn weniger als nichts, gerade dazu nütze, ihm ein wenig Bequemlichkeit zu verschaffen.«
Auch Jorina fröstelte. Die letzten Septembertage wurden zwar tagsüber von mildem Sonnenschein durchwärmt, aber die Abende und Nächte brachen kühl und nebelig herein. Bisher hatte das Fieber den Verwundeten warmgehalten, aber auch geschwächt. Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit
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