Jorina – Die Jade-Hexe
können, dass ihre Gedanken dem Mann nachflogen, der St. Cado verließ. Sie war es nicht gewöhnt, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen, und sie war es noch weniger gewöhnt, über ihre Gefühle zu sprechen. Trotzdem antwortete sie leise: »Ich will nicht, dass er mich anfasst!«
»Nun, im Grunde könntest du das nur verhüten, wenn du ihm aus dem Weg gehst«, erklärte Maé ganz praktisch und warf den Rest des Apfels einfach über die Schulter in den Hof. »Du müsstest St. Cado verlassen!«
Jorina lachte bitter auf. »Nichts, was ich lieber täte, aber denkst du, der Herr ließe mich so einfach zum Tor hinausspazieren?«
»Er müsste ja nicht gleich davon erfahren ...«
Jorina starrte die Magd an, die sie in einer seltsamen Mischung aus schlauer Überheblichkeit und leiser Verachtung musterte. Diese dralle Person bezweifelte tatsächlich, dass sie ihre Worte ernst meinte. Unwillkürlich ließ sie ihren Blick durch den Burghof wandern. Niemand schenkte ihnen besondere Aufmerksamkeit Zwei Frauen, die miteinander tratschten, anstatt ihre Pflicht zu tun, kein unüblicher Anblick in einer Festung, die vor Dreck und Nachlässigkeit nur so starrte.
»Zeig mir einen Weg, auf dem ich fort kann, und ich gehe auf der Stelle!« flüsterte Jorina so leise, dass Maé kaum die Worte vernahm.
»Hast du dir das gut überlegt? Der Winter steht vor der Tür, und hier hättest du ein warmes Quartier und regelmäßige Mahlzeiten!«
»Ich muss es mir nicht überlegen!«
Maé wechselte den schweren Apfelkorb auf die andere Hüfte und warf nun ihrerseits einen prüfenden Blick in die Runde. Die Aussicht, ihre allzu schöne Rivalin auf diese simple Art und Weise loszuwerden, hatte etwas höchst Verlockendes für sie.
»Komm mit ins Haus. Wir müssen uns etwas ausdenken, das niemanden in Verdacht bringt, dass er dir geholfen hat«, sagte sie knapp. »Ich habe keine Lust, dass er mir mit seiner Peitsche das Fell gerbt. Denn er wird wütend sein, weißt du! Er mag es nicht, wenn man ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Und sollte er dich danach jemals wieder in die Finger bekommen ...«
»Keine Angst, Maé!« Jorina fasste auf der anderen Seite des Korbes, damit es so aussah, als trügen sie die Ernte gemeinsam in die Küche. »Wenn du mir hilfst, wird mich keine Menschenseele in dieser Burg jemals wieder zu Gesicht bekommen!«
Maé sah sie prüfend an, dann stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ich muss närrisch sein, dass ich dir glaube! Komm mit!«
Jorina versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Es hatte den Anschein, als könne es die andere gar nicht erwarten, den heimlichen Fluchtplan in die Tat umzusetzen. Jorina war es mehr als recht. Sie vermutete, dass St. Cado nun keinen Moment zögern würde, sie an den Jade-Stern zu erinnern. Nun, wo er ihr in aller Unschuld mitteilen konnte, dass sich Raoul de Nadier nicht mehr in seiner Gewalt befand, hatte sie seiner Ansicht nach keinen Grund, das Versteck des Jade-Sternes noch länger zu verschweigen.
Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihm seinen hinterhältigen Betrug vorzuwerfen. Zum einen hätte sie Maé verraten müssen, und zum anderen hatte er im Sinn des Wortes sein Versprechen gehalten. Dass sie nicht klug genug gewesen war, seine gerissenen Winkelzüge zu durchschauen, war doch allein ihr eigener Fehler gewesen.
1 Siehe ›Graciana – das Rätsel der Perle‹ von Marie Cordonnier
19. Kapitel
»Esst, Messire de Nadier! Wir wollen doch nicht, dass es Euch an etwas mangelt? Niemand soll dem Herzog von St. Cado mangelnde Gastfreundschaft vorwerfen!«
Raoul de Nadier verachtete sich dafür, dass er der Versuchung von Nahrung und Wein am Ende doch nachgab. Doch die Stunden im Sattel, der Novembersturm und die namenlose Wut, die ihn bis in die Fingerspitzen erfüllte, forderten ihren Tribut. Er griff schweigend zu und fragte sich einmal mehr, welche absurden Possen das Schicksal noch mit ihm im Sinne hatte. Wie kindisch, zu essen, wenn am Ende dieses Rittes doch der Tod auf ihn wartete.
Gordien, der Hauptmann des Söldnerführers, betrachtete das Opfer seines Herrn mit der Leidenschaftslosigkeit eines Mannes, der menschlichem Leiden gegenüber längst abgestumpft war. Man wurde nicht die rechte Hand eines Mannes wie St. Cado, indem man sich mit überflüssigen Gefühlen belastete. Einen Anflug von widerwilligem Respekt konnte er dem jungen Seigneur freilich nicht verweigern. Was auch immer hinter seiner Stirn vorging, er behielt es für sich, und es
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