Jorina – Die Jade-Hexe
um den es schade war. Eine Seele, um die es sich zu trauern lohnte, sofern ihm noch Zeit dafür blieb.
»Gebt mir den Becher, wenn Ihr ausgetrunken habt«, riss ihn Hauptmann Gordien aus seinen Gedanken. »Wir löschen das Feuer über Nacht. Genießt die frische Luft noch ein wenig, Messire. Morgen Mittag werden wir die Stadttore von Rennes passieren und Euch dem Profos des Herzogs übergeben!«
Raoul gab keine Antwort. Der Sturm hatte mit Einbruch der Nacht nachgelassen, und nun kroch der Nebel über den Boden. Es war kalt. Aber vielleicht sollte er dankbar sein, dass er überhaupt noch etwas empfand. Der Rest seines Lebens rechnete sich vermutlich nur noch nach Tagen.
»Du kannst von Glück sagen, dass er keine Zeit hat, sich um dich zu kümmern«, tuschelte Maé und strich mit ihren Fingerkuppen neidisch über das einstmals so prächtige rotseidene Kleid. »Der Schwarze Landry ist früher zurückgekommen, als alle dachten. Er hat die Braut dabei!«
»Welche Braut?« erkundigte sich Jorina unkonzentriert, während sie das Barchent-Mieder festzurrte, das zu dem einfachen Bauerngewand gehörte, das Maé ihr im Tausch für die Seidenrobe beschafft hatte.
»Die Braut für Paskal Cocherel, ich hab’ dir doch von ihr erzählt. Eine hochnäsige adelige Gans, die ihre feine Nase schon gerümpft hat, noch ehe sie über die Zugbrücke ritt. Mit der wird er nicht viel Freude haben. Aber natürlich kann er ihr nicht gleich am ersten Abend zeigen, dass er ein Liebchen in der Festung versteckt!«
Jorina streifte die groben Wollstrümpfe über ihre Waden und befestigte sie mit einfachen Bändern. Maé hatte ihr flache, ausgetretene Lederschuhe dazu besorgt, die ganz gut passten, wenn sie die Spitzen vorne mit etwas Stroh ausstopfte. Mit dem festgewebten Kapuzenmantel und der hellen, schmucklosen Leinenhaube wirkte sie wie eine respektable junge Bäuerin, solange sie die Wimpern gesenkt hielt und ihren ungewöhnlich hellen Blick verbarg.
Sie hüllte sich enger in die Kleider. Wie eigenartig, dass sie in dem dünnen Seidengewand nicht einmal so gefroren hatte wie jetzt. Sie musste regelrecht die Zähne aufeinanderpressen, damit sie nicht verräterisch klapperten, aber das Frösteln ließ sie dennoch von Kopf bis Fuß erbeben. Maé achtete nicht darauf, sie war ganz in ihre eigenen Überlegungen vertieft.
»Es wird ihm nur Ärger bringen, dass er plötzlich den edlen Seigneur spielen will«, seufzte sie bedrückt und knetete die ohnehin schon verknitterte Seide mit ihren plumpen Fingern. »Söhne aus noblem Blut will er, die seine Herrschaft erben!«
Jorina sah sie prüfend an. Sie glaubte zu wissen, was in Maé vorging. Sie musste sich vorkommen, als schöpfe sie Wasser durch ein Sieb. Der einen Konkurrentin verhalf sie zur Flucht, während die nächste bereits über die Zugbrücke ritt. Begriff sie nicht, dass der Herzog Frauen allerhöchstens als Mittel zum Zweck verwendete? Dass er an keine von ihnen Gefühle verschwendete?
»Was findest du an diesem Mann?« erkundigte sie sich ratlos. »Er tötet Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, und in seinem Herzen gibt es keinen Funken eines menschlichen Gefühls. Wie kannst du ihm Zuneigung entgegenbringen?«
»Zuneigung?« Maé schüttelte in resigniertem Erstaunen den Kopf. »In welcher Welt bist du aufgewachsen? Ist dir nicht klar, dass die Frau an der Seite des Burgherrn in diesen Mauern eine Menge zu sagen hat? Solange ich ihm das Bett wärme, geht es mir gut, ist meine Arbeit leicht, und die anderen Männer und Frauen tun mir nichts Böses! Es ist angenehm; nicht von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schuften zu müssen, das darfst du mir glauben ...«
»Aber du verkaufst deinen Körper und deine Seele für ein bisschen Wohlleben und ...« Jorina brach ab, als Maé verächtlich auflachte.
»Na und?« Sie legte den Kopf schief. »Jeder verkauft das, was er hat. Ich hab’ nur meinen Körper, und ich müsste doch blöd sein, wenn ich keinen Vorteil daraus schlagen würde!«
»Ich könnte das nicht!« murmelte Jorina und rieb sich unter dem Mantel die kalten Finger.
»Ach nein, was redest du für Unsinn. Du hast es doch bereits getan ...«
»Er hat mich nie angerührt«, platzte sie heraus und lief rot an, als sie Maés fassungslose Miene sah. »Du kannst es mir glauben.«
»Das ist ein bisschen viel verlangt!« schnaufte Maé. »Du musst mir keine Lügen erzählen, damit ich dir helfe. Ich tu’s auch so!«
Jorina konnte selbst nicht genau sagen, weshalb ihr
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