Jorina – Die Jade-Hexe
entkam ihm kein Laut der Klage.
Die Tage in Ketten hätten aus einem anderen Mann längst ein Wrack gemacht. Ohnehin schon durch seine in der Schlacht empfangenen Verletzungen geschwächt und hager, spannten sich jetzt Haut und Muskeln über Knochen. Die grünen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Der struppige schwarze Bart verbarg die eingefallenen Wangenknochen und die schmalen blassen Lippen. Es fehlte nur noch die Kutte eines Bettelmönches, und er hätte vollendet dem Bild eines jener düsteren Asketen entsprochen, die in der Fastenzeit den Sündern auf den Marktplätzen Hölle und Verdammnis predigten.
Immerhin aß er jetzt wenigstens. Langsam und bedächtig, so als überlege er noch, ob ihm die Nahrungsaufnahme von Nutzen sein könne oder nicht. Die ruhigen Hände wurden in eiserner Beherrschung zu langsamen Gesten gezwungen. Etwas an der Haltung des Ritters begann den vierschrötigen Gordien mehr und mehr zu verärgern. Wieso stellte er keine Fragen? Weshalb unternahm er nicht den kleinsten Versuch, etwas an seiner ausweglosen Lage zu ändern? Wie kam er dazu, alles mit dieser provozierenden Ungerührtheit hinzunehmen? Es passte nicht zu dem Ruf des Turniersiegers und mächtigen Kämpen, den er früher gehabt hatte.
Gordien konnte der Versuchung nicht widerstehen, die eherne Ruhe ein wenig ins Wanken zu bringen. »Laßt es Euch nur schmecken! Die kleine Dirne, die unserem Herzog Euer Leben abgeschmeichelt hat, lässt es sich schließlich auch gut gehen!«
Der Hauptmann war ein Haudegen, in zahllosen Schlachten erprobt, jedoch kein solcher Menschenkenner, dass er sehen konnte, wie sich die Kiefermuskeln des jungen Mannes anspannten und sein Atem kurz stockte. Die Erinnerung an Jorina wollte er meiden, wenigstens soweit es in seinen Kräften stand.
Doch das Bild des Herrn von St. Cado, der sich in purem Hohn vor ihm verneigt hatte, glühte in ihm wie ein Brandmal.
»Ihr seid nicht mehr von Wert für mich, Messire de Nadier«, hatte Cocherel höhnisch zu ihm gesagt. »Ich habe von Eurer liebenswürdigen Begleiterin erfahren, was ich wollte, und sie wird mir künftig dienen. Es besteht also kein Grund, weshalb ich mich noch länger mit Eurer unerfreulichen Person abgeben sollte. Zudem habe ich der Kleinen versprochen, dass ich nicht Hand an Euch lege. Sie hat ein sanftes Herz und hegt eine närrische Vorliebe für Euch. Ihr seht mich meinen Eid halten. Gordien wird Euch nach Rennes begleiten und euch dort abliefern, wo Euer angestammter Platz ist und wo man Euch sehnsüchtig erwartet.«
Den angestammten Platz auf dem Rad oder unter dem Galgen, hatte Raoul in Gedanken bitter hinzugefügt. Es gab keinen Ausweg, denn er hatte keine Beweise für seine Unschuld. Jorinas Wort wäre ohnehin nicht von Bedeutung gewesen. Die Aussage einer Magd würde Jean de Montfort niemals davon abhalten, das Todesurteil zu unterzeichnen. Was sollte der Herzog schon anderes tun? Auch er selbst hasste den Mann, der Karl von Blois in den Tod geschickt hatte mit jeder Faser seines Herzens. Nur mit dem Unterschied, dass er wusste, dass es Paskal Cocherel gewesen war, während das ganze übrige Land Raoul de Nadier für den schändlichen Verräter hielt.
»Ihr wollt Euch die Hände also nicht an mir schmutzig machen ...«, hatte er nur geantwortet.
»Seht es, wie Ihr es wollt«, war die Antwort Cocherels gewesen. »Die Belohnung, die auf Euren Kopf ausgesetzt ist, lockt mich eben! Ich werde der Kleinen davon ein neues Gewand kaufen. Seide steht ihr gut, wie Ihr gesehen habt ...«
Die Kleine. Jorina!
So sehr er sich auch bemühte, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben, immer wieder schlich sie sich hinein. Was hatte er von ihr erwartet? Sie war nur eine schwache Frau. Zu weich, zu zart, um gegen einen ausgekochten Schurken wie Paskal Cocherel zu bestehen. Wie konnte er ihr zum Vorwurf machen, was ihm selbst passiert war? Man verfing sich in den Netzen dieses hinterhältigen Erzhalunken, ehe man begriff, wie es dazu gekommen war.
Sein Zorn auf Jorina fiel wie ein Strohfeuer in sich zusammen. Er konnte eigentlich nur Mitleid mit ihr empfinden. Das stolze Mädchen, das er im Schutz der verborgenen Quelle geliebt hatte, gab es nicht mehr. St. Cado hatte dieses so ungewöhnliche und aufrechte Wesen gebrochen, beschmutzt und zerstört. Die Hure im roten Seidenkleid hatte nichts mehr mit der Fee gemeinsam, die ihn im Wald bezaubert hatte.
Wenn er nun an Jorina dachte, dann wie an eine Tote. Jemand, der ihm einmal viel bedeutet hatte und
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