Josefibichl
Genau so hatte er es sich immer vorgestellt.
Schwitzend, keuchend, mit ziehenden Schmerzen in den Oberschenkeln den Berg hinauf. Mehr als mit der Hitze mit sich selbst kämpfend, die letzten zehn Höhenmeter doch noch durchzustehen. Dann, vor Freude, die Kuppe erklommen zu haben, mit letztem Atem »Hurra« schreien – um dann schockgefroren innezuhalten, weil da etwas, jemand lag. Etwas Totes, jemand Umgebrachter, ein ermordeter Mensch.
Er wusste nicht mehr, wann sich diese Vorahnung in seinem Hirn festgefressen hatte. Erst vor wenigen Wochen hatte er mit den Bergläufen angefangen. Recht bald musste es gewesen sein, dass er jedes Mal, wenn er einen steilen Buckel mit letzter Kraft hinter sich brachte, sich kurz vor Erreichen der Kuppe sagte: Dort liegt gleich eine Leiche.
Sein früheres Leben, all die schlimmen Bilder stiegen wohl bei großer körperlicher Anstrengung aus seinem Unterbewusstsein herauf. Andere verarbeiteten durch Träumen. Er verarbeitete durch Schwitzen.
Nun war es so weit. Die alte Phantasie wurde an diesem frühen Dienstagabend frische Realität.
Wenn auch alles anders war. Er war nicht ganz bis zur Kuppe gekommen. Der leblose Körper lag zehn Meter unterhalb in einer Mulde links neben seinem Laufweg. Er hätte ihn nicht gesehen, wäre er nicht einen Moment zuvor über einen der vom Regen freigewaschenen kindskopfgroßen Steine in der alten Fahrrinne gestolpert. Um ein Ausrutschen im lockeren Geröll zu vermeiden, war er nach links ins hohe Gras ausgewichen. Er fing sich rechtzeitig ab, um nicht zu fallen – und nicht auf der Leiche zum Liegen zu kommen.
Auch sonst unterschied sich die Szene von der in seinem Kopf. Der Körper war nicht halb verwest, kein Schmeißfliegenschwarm erhob sich, erschrocken vor seinem Schatten. Mit seinem geschulten Blick sah er nicht mehr als vier, fünf Fliegen ihre Arbeit an den Nasenlöchern verrichten, wo sie ein – und ausgingen. Die fleißigen Tierchen hatten erst begonnen, ihre Larven in der Leiche abzulegen.
Der wichtigste Unterschied zu seiner Phantasie bestand jedoch in etwas anderem. In seinem Kopf war es immer eine Tote, eine Ermordete gewesen, die ihm beim Laufen den Weiterweg versperrte. Nackt, vergewaltigt, mit dem Messer kreuz und quer aufgeschlitzt.
Doch dort lag keine geschändete Frau. Der tote Mensch vor ihm trug nicht einen weißen Rock und eine Jeansweste. Die Leiche war bekleidet mit der braunen Kutte der Franziskanermönche. Mit der Kutte, die er seit frühester Jugend kannte.
Auch ein Messer hatte der Arrangeur dieser Szene nicht verwendet, und es war auch nicht literweise Blut vergossen worden. Die weiße Kordel mit den geheimnisvollen Knoten, die zum Habit des Franziskaners gehörte, umspannte den dürren Mönchskörper nicht an der üblichen Stelle über der Hüfte. Vielmehr hatte sie wohl jemand um den Hals des Geistlichen gelegt und ausreichend lange zugezurrt, dass diesem der Kopf puterrot, die weit aus dem Mund gestreckte Zunge dunkelblau angelaufen und die Augäpfel wie bei einem gegrillten Fisch weit aus ihren Höhlen herausgetreten waren.
Karl-Heinz Hartingers nächster Blick ging von Kordel, Kopf, Zunge und Augäpfeln des Toten zu seinem eigenen linken Arm, an dem er die Sportarmbanduhr trug. Die zweiundzwanzig Jahre als Polizeireporter hatten ihn viel von der Präzision annehmen lassen, mit dem das ermittelnde Personal seiner Geschichten den Beruf ausübte. Um wie viel Uhr er den Toten gefunden hatte, wollte er sich auf die Sekunde genau einprägen. 12:53. . . 54. . . 55. . . 56. . . Verdammt, die Uhr zeigte natürlich noch die Stoppfunktion an, mit der er die Dauer seines Laufs hatte messen wollen. Darunter gab eine blinkende 156 Auskunft über seinen Puls. Sein Arzt hatte ihn strengstens ermahnt, die Herzfrequenz zu messen, wenn er nach zweiundzwanzig Jahren Lotterlebens mit Bergläufen seine alte Form wiederzufinden suchte.
Das war auf einen Schlag reichlich egal geworden. Sein Puls interessierte in diesem Moment nicht mehr. Es stellte sich die Frage, wer den Puls des dort vor ihm Liegenden zum Stillstand gebracht hatte. Zunächst musste Hartinger also feststellen, wann genau er den toten Mönch – wenn er von der Kutte auf die Berufung des Toten schließen konnte – gefunden hatte. Hektisch drückte er an der Uhr herum, deren Gepiepe das Ansteigen seiner Herzfrequenz über hundertsechzig Schläge pro Minute quittierte. Ganz ohne dass er auch nur einen Schritt machen musste.
Endlich – 17:34:45 zeigte die Uhr,
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