Josefibichl
Ein Witz, oder?
Hauptkommissar Ludwig Bernbacher hatte keine Zeit, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung über diese Umstände aufzumachen. Außerdem war Mathematik nie seine Stärke gewesen. Es ging auch um wichtigere Dinge. Es ging um ein Schwerstverbrechen in seinem Wirkungskreis, in seiner Gemeinde, in seinem Garmisch-Partenkirchen. Da hieß es: vorsichtig, umsichtig sein. Er konnte in dieser Sache mehr falsch als richtig machen.
Hatte er nicht schon den ersten großen Fehler gemacht, indem er den Hartinger hatte laufen lassend Hätte er ihn nicht dabehalten sollen, bis sich die Kollegen aus Weilheim, vom Präsidium Oberbayern Süd in Rosenheim, gar aus München oder sonst woher eingefunden hätten? Nachdem seine Polizeiinspektion durch Hartingers Anruf alarmiert worden war, hatte er dem vorgeschriebenen Alarmplan folgend sofort die entsprechenden Stellen anrufen lassen. Andererseits: War er nur deren Erfüllungsgehilfe, konnte er nicht selbst entscheiden, wann er einen Zeugen nach Hause schickte und wann nicht? Er, Ludwig Bernbacher, konnte das. Er war Polizeichef von Garmisch-Partenkirchen.
Bernbacher stieg aus seinem klimatisierten Audi und überwachte die Absicherungsmaßnahmen der jungen Polizeiobermeister, die sich in der dämpfigen Schwüle des Sommerabends durchs Gras kämpften. Zu nahe an den Toten heran wollte er sich nicht wagen. Erstens der Spuren wegen, die nicht zerstört werden durften – wann rückten denn endlich die Spurensicherer aus Weilheim an? – und zweitens hatte er schon als Bub beim Fußball, Eishockey, auf der Skipiste oder wann auch immer es zu Verletzungen gekommen war, am liebsten weggeschaut. Ein Helfersyndrom hatte ihn ganz gewiss nicht zum Polizisten werden lassen.
Im Sprechfunk, den er über den Außenlautsprecher seines Audi mithören konnte, meldeten sich zum ersten Mal die Weilheimer. Verfranzt, die Deppen. Hoffentlich konnten sie das hier oben wenigstens anständig. So viele Menschen wurden im Oberland auch nicht umgebracht, dass so eine SpuSi den ganzen Tag Mordschauplätze zu untersuchen hätte. Auch wenn die Weilheimer für so ziemlich das ganze Bayernland, das sich südlich Münchens befand, zuständig waren. An den westlichen Grenzen Oberbayerns gab es manchmal Reibereien mit den Augsburgern. Klar, dass man sich um jeden spektakulären Fall an der Grenze zwischen Bayern und Schwaben stritt. Normal spektakulär war ein Selbstmörder, der von der Echelsbacher Brücke gesprungen war, oder ein zu risikofreudiger Kawasaki-Fahrer hinter Unterammergau – etwas ganz anderes war das hier: ein echtes Kapitalverbrechen.
Das Dudeln des Mobiltelefons, das sauber an den Gürtel der Sommeruniform geklammert war, unterbrach Bernbachers Gedanken.
»Hauptkommissar Bernbacher, Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen.« Bernbacher versuchte einen unaufgeregten, professionellen Ton.
»Schneider, LKA. Bernbacher, wo sind Sie?«, fragte die Stimme am anderen Ende forsch.
Bernbacher schlug innerlich die Hacken zusammen.
Das LKA. Bayerisches Landeskriminalamt, München. Die POMs sahen zu ihm herüber und bemerkten seine ungewohnt straffe Körperhaltung. Sie wussten: Jetzt wird‘s ernst.
»Direkt am Tatort. Sichere das Umfeld. Alles unter Kontrolle.«
»Woher wissen Sie, dass das der Tatort ist? Haben Sie einen Augenzeugen?«
Bernbacher wurde beinahe schwarz vor Augen. Waren das jetzt ein großer Fehler oder zwei kleine gewesen? Nicht gut, gar nicht gut. . .
»Korrigiere, bin am Fundort des Leichenfunds, äh, am Ort des Fundes . . . Zeuge vorhanden, aber . . .«
»Bernbacher, halten Sie die Leute aus dem Gelände, wir sind in einer Viertelstunde da. Machen Sie Fotos von allem, was Sie sehen. Vielleicht läuft Ihnen ja eine Gämse vor die Linse. Ende.«
Bernd Schneider reichte das Gehörte, um zu wissen, dass da ein schwieriger Fall auf ihn zukam. Sein rechter Bikkembergsschuh nagelte das Gaspedal des BMW ans Bodenblech. Kaum, dass er den Wagen auf Höchstgeschwindigkeit gebracht hatte, die bei zweihundertfünfzig Stundenkilometern elektronisch begrenzt war, erreichte er das Ende der Autobahn 95 bei Eschenlohe. Er preschte mit vollem Orchester weiter über die B 2, schnitt durch das enge Oberau, dass die Wäsche an den Baikonen rechts und links der Bundesstraße flatterte, und stellte den Wagen nur knapp fünfzehn Minuten nach dem Telefonat mit Bernbacher auf dem Parkplatz der Garmisch-Partenkirchner Polizeiinspektion ab. Er wies seine Assistentin an, sofort einen ortskundigen
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