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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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denn einmal erzählte Geheimnisse gehören nicht mehr dem, der sie erzählt, sondern dem, der sie hört. Will man nicht, dass ein Geheimnis verraten wird, gibt es nur eins: Erzähl es keiner Menschenseele . Auch diese Lehre sollte ihm im späteren Leben nützlich sein. Und in diesem späteren Leben, als er bereits Schriftsteller geworden war, sagte ihm seine Mutter: »Ich höre auf, dir solche Geschichten zu erzählen, weil du sie in deine Bücher packst und mich damit in Schwierigkeiten bringst.« Womit sie recht hatte, und vielleicht wäre sie gut beraten gewesen, wirklich damit aufzuhören, nur war der Tratsch ihre Droge und sie kam davon nicht los, noch weniger, als ihr Mann die Finger vom Alkohol lassen konnte.
    Windsor Villa, Warden Road, Bombay 26. Ein Haus auf einem Hügel mit Blick aufs Meer und auf die Stadt, die sich zwischen Hügel und Meer ausbreitet, und ja, sein Vater war reich, doch brachte er sein Leben damit zu, all das Geld auszugeben, und er starb verarmt, blieb seine Schulden schuldig und hatte ein Bündel Rupienscheine in der oberen linken Schublade seines Schreibtisches, mehr an Bargeld war ihm nicht geblieben. Anis Ahmed Rushdie (›B. A. Cambridge, Barrister‹ stand stolz auf der an die Wand neben der Eingangstür festgeschraubten Messingplatte) erbte ein Vermögen von seinem Vater, einem Textilmagnaten, dessen einziger Sohn er war, verprasste es, verlor es und starb, was die Geschichte eines glücklichen Lebens hätte sein können, es aber nicht war. Seine Kinder wussten so manches über ihn: dass er morgens fröhlich war, bis er sich rasierte, aber dann, nachdem der Philishave sein Werk getan hatte, wurde er reizbar, und sie achteten darauf, ihm aus dem Weg zu gehen; dass er, wenn er am Wochenende mit ihnen zum Strand ging, auf dem Hinweg aufgedreht und lustig sein konnte, aber griesgrämig auf dem Rückweg war; dass ihre Mutter, wenn sie im Willingdon Club mit ihm Golf spielte, verlieren musste, obwohl sie die bessere Spielerin war, da das Gewinnen ihr nichts brachte; und dass er, wenn er betrunken war, grässliche Fratzen ziehen und sein Gesicht auf bizarre, grausige Weise verziehen konnte, womit er ihnen schreckliche Angst einjagte, Grimassen, die kein Außenstehender je sah, weshalb niemand verstand, was sie damit meinten, wenn sie sagten, ihr Vater ›mache Gesichter‹. Doch als sie noch klein waren, waren da die Geschichten und dann der Schlaf, und wenn sie laute Stimmen im Nebenzimmer, wenn sie ihre Mutter weinen hörten, gab es nichts, was sie dagegen tun konnten. Sie zogen die Bettdecke über ihre Köpfe und träumten.
    Im Januar 1961 nahm Anis seinen dreizehnjährigen Sohn mit nach England, und ehe seine Schulzeit an der Rugby School begann, teil ten sie sich etwa eine Woche lang ein Zimmer im Londoner Cumberland Hotel unweit von Marble Arch. Tagsüber gingen sie shoppen und kauften die von der Schule verlangten Kleider; Tweedjacken, graue Flanellhosen, Van-Heusen-Hemden mit abnehmbaren, halbstei fen Kragen, weshalb Kragenknöpfe unumgänglich waren, die im Nacken drückten und das Atmen erschwerten. Sie tranken Schokoladenshakes im Lyons Corner House in der Coventry Street und gin gen ins Odeon Marble Arch, um sich den Film The Pure Hell of St. Trinian’s anzusehen, und er wünschte sich, es gäbe Mädchen im Internat. Abends kaufte sein Vater Brathähnchen vom Kardomah Takeaway in der Edgware Road, und der Junge musste das Essen unter seinem neuen doppelreihigen Mackintosh aus blauem Serge aufs Hotelzimmer schmuggeln. Abends betrank sich Anis, und in den frühen Morgenstunden schüttelte er seinen verängstigten Sohn wach, um ihn mit derart derben Flüchen zu beschimpfen, dass der Junge gar nicht glauben konnte, sein Vater kenne solche Ausdrücke. Dann fuhren sie nach Rugby, kauften einen roten Sessel und sagten einander Lebewohl. Anis machte vor dem Internat ein Foto von seinem Sohn, der die blauweiß gestreifte Hauskappe trug und den nach Hähnchen stinkenden Mackintosh, und wenn man den Kummer in den Augen des Jungen sah, konnte man glauben, dass er traurig war, so weit fort von daheim zur Schule gehen zu müssen. Dabei konnte er es gar nicht erwarten, dass sein Vater ging, damit er endlich versuchen konnte, die Nächte voller Flüche und unvermittelter, rotäugiger Wut zu vergessen. Er wollte den Kummer in der Vergangenheit zurücklassen und seine Zukunft beginnen, weshalb er sein Leben wohl zwangsläufig so weit fort wie nur möglich von seinem Vater lebte und Ozeane

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