Joseph Anton
hat – was eine akzeptable Annahme sein dürfte, da Erzengel angeblich gegen Errata immun sind, dass b) der Prophet oder, wie er sich selbst nannte, der ›Gesandte‹ jedes Wort fehlerlos erinnerte, dass c) die hastige Niederschrift seiner Gefährten dieser über dreiundzwanzig Jahre währenden Offenbarungen ebenso fehlerfrei war und dass schließlich d) ihr kollektives Gedächtnis, als sie den Text in seine endgültige Form brachten, gleichfalls perfekt und fehlerlos funktionierte.
Anis Rushdie neigte nun keineswegs dazu, die Annahmen a), b) und c) in Frage zu stellen, allerdings fiel es ihm deutlich schwerer, sich mit Annahme d) abzufinden, denn wie ein jeder, der den Koran liest, ohne Weiteres feststellen kann, enthalten mehrere Suren oder Kapitel extreme Brüche, wechseln sie doch abrupt das Thema, das dann manches Mal ohne jede Vorankündigung in einer späteren Sure wieder auftaucht, die bis dahin von etwas völlig anderem gehandelt hat. Es war nun Anis’ lang gehegter Wunsch, diese Brüche zu glätten und so einen klareren und einfacher zu lesenden Text zu schaffen. Übri gens war dies kein geheimer, verschwiegener Plan; sein Vater redete offen mit Freunden beim Essen darüber. Der Gedanke, dieses Un terfangen könne ein Risiko für den revisionistischen Gelehrten bedeuten, kam gar nicht erst auf; es fehlte jede Andeutung von Gefahr. Vielleicht waren es schlicht andere Zeiten, und solche Ideen konnten erwogen werden, ohne dass man Angst vor irgendwelchen Repressalien haben musste, vielleicht war sein Freundeskreis auch besonders vertrauenswürdig, oder aber Anis war ein naiver Narr. Jedenfalls erzog er seine Kinder in einer solchen Atmosphäre offener Neugierde und Wissbegier. Nichts war unantastbar; es gab keine Tabus. Alles, auch die Heilige Schrift, konnte untersucht und vielleicht sogar verbessert werden.
Er hat es nie getan. Als er starb, wurde unter seinen Papieren kein entsprechender Text gefunden. Alkohol und schlecht gehende Ge schäfte hatten seine letzten Jahre überschattet, weshalb er nur wenig Zeit oder Muße für die mühselige Kleinarbeit gewissenhafter Koran-Forschung fand. Doch selbst wenn seine Idee stets nur ein haltloser Traum oder leere, vom Whiskey beseelte Großsprecherei gewesen war, hinterließ sie beim Sohn ihre Spuren. Dies nämlich war das zweite große Geschenk von Anis an seine Kinder: ein anscheinend furchtloser Skeptizismus, gepaart mit einer fast völligen Freiheit von jeglicher Religion. Allerdings wurde ein gewisser Anschein gewahrt. Das ›Fleisch vom Schwein‹ kam im Hause Rushdie nicht auf den Tisch, auch keine ›Aasfresser der Erden und der See‹, für sie gab es kein Krabbencurry aus Goa. Und nur selten ging man fürs rituelle Auf und Nieder der Gebete zum Gebetsplatz der Moschee. Ein- oder zweimal im Jahr wurde in jener Zeit gefastet, die von den eher Urdu als Arabisch sprechenden Muslimen Indiens Ramzán, nicht Ramadan, genannt wurde. Und einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, stellte Negin einen maulvi an, einen Religionsgelehrten, der ihren heidnischen Kindern die Grundlagen des Glaubens beibringen sollte. Doch die Heidenkinder rebellierten gegen den maulvi , gegen dieses wie Ho Chi Minh aussehende Wichtelmännchen, und trieben so gnadenlos ihren Spott mit ihm, dass er sich bei den Eltern bitterlich über ihren mangelnden Respekt für alles Heilige beklagte; doch Anis und Negin lachten nur und hielten zu ihren Kindern. Verwünschungen gegen die Ungläubigen murmelnd, verschwand der maulvi , um niemals wiederzukehren, und der Religionsunterricht wurde nicht wieder aufgenommen. Die Heidenkinder wuchsen heidnisch auf, und zumindest in der Windsor Villa fand man das so ganz in Ordnung.
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Als er sich mit der blauweiß gestreiften Kappe von Bradley House und dem Mackintosh aus Serge von seinem Vater abwandte, um sich ins englische Leben zu stürzen, wurden ihm als Erstes die Sünden der Fremdheit aufgezeigt. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich nie für irgendwie fremdartig gehalten. Nach Rugby aber sollte er die dort gelernte Lektion nicht mehr vergessen: dass es immer Menschen geben würde, die ihn nicht mochten, für die er so fremd wie ein grünes Männchen vom Mars oder Glibber aus dem Weltall blieb; und es war witzlos, ihre Ansichten ändern zu wollen. Entfremdung, eine Lektion, die er später unter dramatischeren Umständen aufs Neue zu lernen hatte.
Schnell fand er heraus, dass man in einem englischen Internat An fang der sechziger Jahre drei Fehler
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