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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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ibn Ruschd.
    Sie hatten ähnliche Stimmen, sein Vater und er. Ging er daheim ans Telefon, begannen Anis’ Freunde mit ihm zu reden, als wäre er sein Vater, und er musste sie unterbrechen, ehe sie etwas sagten, was ihnen unter Umständen peinlich war. Sie sahen sich auch ähnlich, und wenn sie während der ruhigeren Abschnitte ihrer holprigen Reise als Vater und Sohn einmal an einem warmen Abend gemeinsam auf der Veranda saßen, den Duft der Bougainvillea in der Nase, und angeregt über die Welt diskutierten, wussten sie beide, dass sie in vielerlei Hinsicht unterschiedlicher Meinung waren, letztlich aber dieselbe Gesinnung hatten. Und der Unglaube war, was sie am stärksten verband.
    Anis war ein gottloser Mensch – in den Vereinigten Staaten noch heute eine schockierende Aussage, in Europa nichts Besonderes, und in einem Großteil der übrigen Welt ein fast unverständlicher Gedanke, ist dort die Vorstellung, nicht zu glauben , doch kaum in Worte zu fassen. Aber das war er nun einmal, ein gottloser Mensch, der viel über Gott wusste und viel über ihn nachgedacht hatte. Die Geburt des Islam faszinierte ihn, da der Islam die einzige der großen Weltreligionen war, die entstand, als es bereits Geschichtsschreibung gab, weshalb deren Prophet keine Legende war, über den ›Evangelisten‹ Hunderte von Jahren nach Leben und Tod des realen Menschen geschrieben hatten, ein Brei, vom heiligen Paulus, diesem genialen Be kehrer, zum problemlosen globalen Verzehr wieder aufgewärmt, sondern ein Mensch, über dessen Leben Zeugnisse existierten, dessen soziale wie ökonomische Verhältnisse genau bekannt waren; ein Mensch, der einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel durchlebte, vom Waisenkind zu einem erfolgreichen Kaufmann mit mystischen Neigungen heranwuchs und der eines Tages auf dem Berg Hira nahe Mekka den Erzengel Gabriel am Horizont sah, wie er den Himmel verdunkelte und ihn anwies, seine Worte ›zu rezitieren‹, um so, nach und nach, jenes Buch zu schreiben, das als ›Rezitierung‹, als al-Qur’an, Koran, bekannt werden sollte.
    Dies wurde vom Vater an den Sohn weitergegeben: die Auffassung, dass die Geschichte vom Beginn des Islam faszinierend sei, weil es sich um ein Ereignis innerhalb der Geschichte handelte, weshalb es als solches offenkundig von den Geschehnissen, den Problemen und Ideen der Zeit seiner Entstehung beeinflusst worden war, dass darüber hinaus die Historisierung der Geschichte, der Versuch, zu verstehen, wie eine große Idee von diesen Kräften geformt wurde, die einzig sinnvolle Herangehensweise war und dass man Mohammed als einen genuinen Mystiker akzeptieren kann – so wie man akzeptieren kann, dass Johanna von Orléans tatsächlich Stimmen gehört hat oder dass die Offenbarungen des heiligen Johannes die ›realen‹ Erfahrungen einer gequälten Seele sind – ohne akzeptieren zu müssen, dass man, hätte man an jenem Tag neben dem Propheten des Islam auf dem Berg Hira gestanden, gleichfalls den Erzengel gesehen hätte. Offenbarung sollte als ein inneres, subjektives Erlebnis verstanden werden, nicht als objektive Realität, und ein offenbarter Text sollte wie jeder andere Text mit all den literarischen, historischen, psychologischen, linguistischen und soziologischen Instrumenten eines Kritikers untersucht werden. Kurzum, man sollte diesen Text als menschliches Artefakt behandeln, das, wie alle derartigen Artefakte, menschlicher Fehlbarkeit und Unvollkommenheit ausgesetzt war. Der amerikanische Kritiker Randall Jarrell nennt den Roman in seiner berühmten Definition ›ein langes Stück Text, mit dem irgendwas nicht stimmt‹, Anis Rushdie meinte zu wissen, was mit dem Koran nicht stimmt; der Text war an einigen Stellen durcheinandergeraten.
    Laut Überlieferung begann Mohammed, kaum vom Berg herabgestiegen, das Offenbarte zu rezitieren und – er selbst war vermut lich Analphabet – wer immer von seinen Vertrauten gerade in der Nähe war, schrieb seine Worte auf dem Material nieder, das er gerade zur Hand hatte (Pergament, Stein, Leder, Blätter und manchmal, heißt es, sogar auf Knochen). Diese Niederschriften wurden bis nach Mohammeds Tod in seinem Haus in einer Truhe aufbewahrt; dann kamen die Gefährten zusammen, um die korrekte Abfolge der Offenbarungen festzulegen; und diese Festlegung ergab den heutigen kanonischen Text des Koran. Damit dieser Text ›vollkommen‹ sei, musste der Leser annehmen, dass a) der Erzengel die Worte Gottes ohne irgendeinen Lapsus übermittelt

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