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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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zwischen ihnen beließ. Als er den Abschluss an der Universität Cambridge machte und seinem Vater sagte, er wolle Schriftsteller werden, entfuhr Anis ein unbeherrschter, schmerzlicher Aufschrei: »Und was soll ich jetzt meinen Freunden sagen?«
    Neunzehn Jahre später schickte Anis Rushdie seinem Sohn zum vierzigsten Geburtstag einen handgeschriebenen Brief, der für den Schriftsteller zum kostbarsten Dokument wurde, das er je erhalten hatte und je erhalten sollte. Der Brief kam, fünf Monate ehe Anis mit siebenundsiebzig Jahren an einem sich rasch ausbreitenden multiplen Myelom starb – an Knochenmarkkrebs. Aus dem Brief wurde deutlich, wie aufmerksam und mit welch profunder Einsicht er die Bücher seines Sohnes gelesen und verstanden hatte, wie begierig er darauf wartete, weitere Werke von ihm zu lesen, und wie tief die väterliche Liebe reichte, die er sein Leben lang nicht auszudrücken vermochte. Er lebte noch lang genug, um sich über den Erfolg von Mitternachtskinder und Scham und Schande freuen zu können, doch als das Buch erschien, dessen Entstehen ihm am meisten verdankte, gab es ihn nicht mehr. Vielleicht war das gut so, schließlich blieb ihm der nachfolgende Skandal erspart, auch wenn zu dem wenigen, dessen sich sein Sohn vollkommen sicher war, die Überzeugung gehörte, dass sein Vater ihn im Kampf um Die satanischen Verse rückhaltlos und unnachgiebig unterstützt hätte. Ohne die Ideen seines Vaters, ohne sein ermutigendes Beispiel wäre dieser Roman nie geschrieben worden. They fuck you up, your mum and dad , heißt es in einem Gedicht von Philip Larkin, aber darum ging es gar nicht. Sicher, das hatten sie auch getan, vielleicht, vor allem aber hatten sie ihn jenen Mensch und Schriftsteller werden lassen, zu dem er das Zeug in sich trug.
    Das erste Geschenk, das er von seinem Vater erhielt, ein Geschenk gleich einer Botschaft in einer Zeitkapsel, einer Botschaft, die er erst verstand, als er erwachsen wurde, war sein Nachname. ›Rushdie‹ hatte Anis sich ausgedacht; der Name seines Vaters war ein ziemlicher Zungenbrecher gewesen: Khwaja Muhammad Din Khaliqi Dehlavi, ein prächtiger Name gewiss, typisch für ein lang vergangenes Delhi, ein Name, der hervorragend zu jenem Gentleman alter Schule passte, der auf dem einzig verbliebenen Foto mit wildem Blick den Betrachter anstierte, ein erfolgreicher Industrieller und Hobbyessayist, der in einem baufälligen haveli in der berühmten alten muhalla wohnte, dem Stadtteil Ballimaran, einem Labyrinth kleiner, gewundener Gassen am Chandni Chowk und Heimstatt des großen Farsi- und Urdu-Dichters Ghalib. Muhammad Din Khaliqi starb jung und hinterließ seinem Sohn ein Vermögen, das bald durchgebracht war, aber auch einen Namen, der für die moderne Welt eine zu schwere Bürde bedeutete. Anis nannte sich in ›Rushdie‹ um aus Bewunderung für Ibn Ruschd, Averroës für den Westen, jenen spanisch-arabischen Philosophen des zwölften Jahrhunderts aus Córdoba, der zum qadi , Richter, von Sevilla aufstieg, den Übersetzer und renommierten Kommentator der Werke von Aristoteles. Sein Sohn trug den Nachnamen zwei Jahrzehnte, ehe ihm aufging, dass sein Vater, ein wahrer Gelehrter des Islam, dem jeder religiöse Glaube abging, sich für diesen Namen entschied, weil er an Ibn Ruschd schätzte, dass er zu seiner Zeit an vorderster Front den rationalen Diskurs gegen eine allzu buchstabengetreue Koranauslegung geführt hatte, und weitere zwanzig Jahren sollten vergehen, ehe die Auseinandersetzung um Die satanischen Verse im zwanzigsten Jahrhundert ein Echo dieses achthundert Jahre alten Streites aufkommen ließ.
    »Wenigstens«, sagte er sich, als der Sturm über ihn hereinbrach, »ziehe ich mit dem passenden Namen in diese Schlacht.« Von jenseits des Grabes hatte sein Vater ihm die Flagge gereicht, unter der er zum Kampf bereit war, die Flagge des Ibn Ruschd, die für Intellekt stand, für Argumente, Analyse, Fortschritt, für die Befreiung der Philosophie und der Bildung von den Fesseln der Theologie, für Verstand und gegen blinden Glauben, Unterwerfung, Duldsamkeit und Stagnation. Niemand will in den Krieg ziehen, doch wenn ein Krieg des Weges kommt, dann möge es der rechte Krieg sein, in dem es um das Wichtigste auf der Welt geht, damit man, wenn man denn schon kämpfen muss, ebenso gut auch ›Rushdie‹ heißen und dort sein könne, wohin einen der Vater stellte, nämlich in die Tradition des großen Aristotelikers Averroës, Abu I-Walid Muhammad ibn Ahmad

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