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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Derartigem fähig war, und als man ihn fragte, weshalb er sich da so sicher sei, antwortete er, dass er bereits seit vielen Jahren auf der Straße fahre und sich um die Lastwagen kümmere, als wären sie »seine eigenen« (an dieser Stelle schwieg er kurz, und das unausgesprochene Wort in diesem Moment der Stille hätte ›Kinder‹ sein können), weshalb es seinem Naturell völlig widerspreche, einen Truck zuschanden zu fahren. Als die Geschworenen dies hörten, erstarrten sie sichtlich, und es war klar, dass der Mann den Prozess verloren hatte. »Dabei«, murmelte Bruce, »hat er natürlich nur die Wahrheit gesagt.«
    Diesem Mörder bedeuteten Lastwagen mehr als Menschen. Und fünf Jahre später waren offenbar Menschen unterwegs, die einen Schriftsteller wegen seiner gotteslästerlichen Worte umbringen wollten, und der Glaube, zumindest eine bestimmte Auslegung dieses Glaubens, war ihr Lastwagen, den sie mehr als ein menschliches Leben liebten. Dabei war das, wie er sich nun in Erinnerung rief, gar nicht seine erste Blasphemie gewesen. Mit Bruce war er auf den Ayers Rock gestiegen, und das hatte man inzwischen auch verboten. Der den Aborigines zurückgegebene Rock, der wieder seinen alten Namen Uluru trug, war heute geheiligtes Terrain, auf dem Bergsteiger nicht länger geduldet wurden.
    Auf dem Rückflug von dieser australischen Reise im Jahre 1984 begann er zu verstehen, wie Die satanischen Verse geschrieben werden konnten.
    Die Andacht in der griechisch-orthodoxen Kathedrale der heiligen Sophia der Erzdiözese von Thyateria und Großbritannien, hundertzehn Jahre zuvor als ein Prunkbau errichtet, der an die großen Kathedralen des alten Byzanz gemahnen sollte, wurde ganz in sonorem, salbungsvollem Griechisch abgehalten. Die Rituale waren so wortreich wie mysteriös. Bla, bla, bla Bruce Chatwin, intonierten die Priester, bla, bla Chatwin bla, bla. Sie standen auf, sie setzten sich, sie knieten sich hin, sie erhoben sich und setzten sich wieder. Es stank nach heiligem Räucherwerk. Er musste daran denken, wie ihn sein Vater in Bombay als Kind einmal mitgenommen hatte, um am Tag des Ramadanfestes zu beten. Auf dem Gebetsplatz wurde nur Arabisch geredet, und es gab jede Menge Mit-der-Stirn-Aufschlagen und Herumstehen mit ausgestreckten Händen, die Handflächen nach oben, dazu ewiges Gemurmel unbekannter Worte in einer Sprache, die ihm fremd war. »Mach mir einfach alles nach«, hatte sein Vater gesagt. Sie waren keine religiöse Familie und gingen fast nie zu solchen Zeremo nien. Gebete und deren Bedeutung hatte er nicht gelernt. Alles, was er konnte, war, dieses eine Gebet nachzuplappern, es auswendig vor sich hin zu murmeln. Und deshalb kam ihm die bedeutungslose Zeremonie in der Moscow Road so vertraut vor. Er saß mit Marianne neben Martin Amis und dessen Frau Antonia Phillips. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagte Martin, als er ihn umarmte. »Ich auch um mich«, hatte er geantwortet. Bla Chatwin bla Bruce bla. Der Schriftsteller Paul Theroux saß in der Bank hinter ihm. »Salman«, sagte er, »bestimmt sitzen wir nächste Woche deinetwegen hier.«
    Als er eintraf, standen einige Fotografen auf dem Gehweg. Norma lerweise ziehen Schriftsteller keine Scharen von Paparazzi an, doch drangen im Laufe der Andacht immer mehr Journalisten in die Kirche. Eine unverständliche Religion war Gastgeber für eine Sensationsmeldung, die der unverständliche Gewaltangriff einer anderen unverständlichen Religion ausgelöst hatte. Zu den schlimmsten Folgen dessen, was geschehen ist , sollte er später schreiben, gehört, dass das Unverständliche verständlich wurde, das Unvorstellbare vorstellbar.
    Die Andacht endete, und die Journalisten drängten zu ihm. Gillon, Marianne und Martin versuchten, sie aufzuhalten. Ein hartnäckiger, grauhaariger Kerl (grauer Anzug, graues Haar, graues Gesicht, graue Stimme) schaffte es durch die Menge, hielt ihm ein Tonband unter die Nase und stellte die naheliegenden Fragen. »Tut mir leid«, erwiderte er. »Dies ist eine Andacht zum Gedenken an meinen Freund, da wäre es ungehörig, Interviews zu geben.« – »Sie verstehen nicht«, sagte der graue Kerl und klang verwirrt. »Ich bin vom Daily Telegraph . Die haben mich extra hergeschickt.«
    »Gillon, ich brauche deine Hilfe«, sagte er.
    Gillon beugte sich aus seiner beachtlichen Höhe zu dem Reporter hinab und sagte mit fester Stimme und hochnäsigstem Akzent: » Verpiss dich! «
    »So können Sie nicht mit mir reden«, erwiderte

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