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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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britisch-indischen Parlamentsabgeordneten für Ost-Leicester, hielt den Hörer zu und wisperte: »Willst du mit dem Kerl reden?«
    Vaz sagte in diesem Telefongespräch, was passiert sei, sei »entsetzlich, absolut entsetzlich«, und versprach seine »volle Unterstützung«. Einige Wochen später war er einer der prominentesten Redner während einer Demonstration gegen Die satanischen Verse , an der über dreitausend Muslime teilnahmen; dieser Marsch, sagte er, mache »den heutigen Tag zu einem der größten Tage in der Geschichte des Islam und Großbritanniens«.
    Er merkte, dass er nicht vorausdenken konnte, dass er keine Ahnung hatte, wie er sein Leben jetzt gestalten, welche Pläne er machen sollte. Er konnte sich nur auf das Nächstliegende konzentrieren, und das war im Augenblick der Gedenkgottesdienst für Bruce Chatwin. »Mein Lieber«, sagte Gillon, »meinst du wirklich, du solltest dahin gehen?« Er traf seine Entscheidung. Bruce war ein enger Freund gewesen. »Scheiß drauf«, sagte er, »gehen wir.«
    Marianne kam, in den blitzenden Augen ein leicht gestörter Blick, empört, weil sie, als sie das Haus in der St. Peter’s Street 41 verließ, von Fotografen bedrängt worden war. Am nächsten Tag würde dieser Blick auf dem Titelblatt aller Zeitungen im Land zu sehen sein. Eines der Blätter gab diesem Blick einen Namen in fünf Zentimeter großen Lettern: DAS GESICHT DER ANGST . Marianne sagte nicht viel. Er auch nicht. Sie stiegen in ihr Auto, einen schwarzen Saab, und er fuhr durch den Park nach Bayswater. Hinten saß Gillon Aitken mit besorgter Miene, sein langer Leib lässig über den Rücksitz drapiert.
    Seine Mutter und seine jüngste Schwester waren in Karatschi. Was würde aus ihnen werden? Seine mittlere Schwester, längst mit der Familie auseinandergelebt, wohnte im kalifornischen Berkeley. War sie dort sicher? Seine älteste Schwester, Sameen, sein ›irischer Zwil ling‹, wohnte mit ihrer Familie im Norden Londons, in Wembley, nicht weit vom berühmten Stadion. Was war nötig, um sie zu beschützen? Sein Sohn, Zafar, gerade mal neun Jahre und acht Monate alt, lebte mit seiner Mutter Clarissa in der Burma Road, Hausnummer 60, ganz in der Nähe von Green Lanes und Clissold Park. Zafars zehnter Geburtstag schien ihm in diesem Moment weit, weit weg zu sein. »Dad«, hatte Zafar gefragt, »warum schreibst du keine Bücher, die ich lesen kann?« Das ließ ihn an eine Zeile aus ›St. Judy’s Comet‹ denken, einen Song, den Paul Simon als Schlaflied für seinen kleinen Sohn geschrieben hatte. If I can’t sing my boy to sleep, well, it makes your famous daddy look so dumb – Wenn ich meinen Jungen nicht in den Schlaf singen kann, tja, dann steht dein berühmter Vater wohl ziemlich blöd da . »Gute Frage«, hatte er geantwortet. »Lass mich das Buch fertig machen, an dem ich gerade arbeite, und dann schreibe ich eins für dich. Abgemacht?« – »Abgemacht.« Also hatte er das Buch zu Ende geschrieben, und es war veröffentlicht worden, aber jetzt blieb ihm vielleicht nicht mehr genug Zeit, noch ein Buch zu schreiben. Niemals , dachte er, soll man ein Versprechen brechen, das man einem Kind gegeben hat , und dann hängte sein konfuser Kopf den idiotischen Zusatz an, wäre aber der Tod des Autors eine akzeptable Entschuldigung ?
    Sein Verstand sann auf Mord.
    Vor fünf Jahren war er mit Bruce Chatwin durch Australiens ›rote Mitte‹ gereist, hatte sich in Alice Springs ein Graffito notiert: Stell dich, weißer Mann, deine Stadt ist umzingelt , und sich mühsam den Ayers Rock hinaufgehievt, während Bruce, der stolz darauf war, es vor kurzem bis zum Mount-Everest-Basislager geschafft zu haben, an ihm vorbeihüpfte, als liefe er einen sanften Hang hinauf, hatte gehört, was sich die Einheimischen über den sogenannten ›Dingo-Baby-Fall‹ erzählten, und in einer lausigen Bruchbude namens Inland Motel gehaust, in dem man im Jahr zuvor einem sechsunddreißigjährigen Trucker namens Douglas Crabbe einen Drink verweigert hatte, weil er schon zu besoffen war, woraufhin er die Leute hinterm Tresen beschimpfte und dann, nachdem man ihn rausgeworfen hatte, mit seinem Truck in vollem Tempo auf die Bar zuhielt und fünf Menschen umbrachte.
    In einem Gericht in Alice Springs machte Crabbe seine Aussage, und sie fuhren hin, um sie anzuhören. Der Trucker war unauffällig ge kleidet, der Blick gesenkt, die Stimme tief und eintönig. Er beharrte darauf, nicht zu jener Sorte Mensch zu gehören, die zu

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