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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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der Mann vom Telegraph . »Ich war auch auf dem Internat.«
    Danach war Schluss mit lustig. Als er auf die Moscow Road trat, umschwärmten ihn Journalisten wie Drohnen auf der Suche nach der Königin, Fotografen nahmen einander huckepack, taumelnde Leiberberge, aus denen Blitzgewitter zuckten. Blinzelnd und orientierungslos stand er da und wusste einen Moment lang nicht, was er machen sollte.
    Es schien kein Entkommen zu geben. Zum Auto zu laufen, das nicht mehr als hundert Meter entfernt stand, war unmöglich, ohne von Kameras verfolgt zu werden, von Mikrofonen und Männern, die auf welches Internat auch immer gegangen und extra seinetwegen geschickt worden waren. Rettung kam durch seinen Freund Alan Yen tob von der BBC , Filmemacher und Vorstandsmitglied des Senders, den er acht Jahre zuvor kennengelernt hatte, als Alan für Arena einen Dokumentarfilm über einen jungen Schriftsteller drehte, dessen frisch publizierter Roman mit dem Titel Mitternachtskinder von der Öffentlichkeit wohlwollend aufgenommen wurde. Alan besaß einen Zwillingsbruder, doch behaupteten die Leute oft: »Salman sieht wie dein Zwilling aus.« Diese Ansicht hielt sich, obwohl sie beide anderer Auffassung waren. Heute dürfte für Alan allerdings wohl kaum ein Tag sein, an dem er gerne mit ihm verwechselt werden wollte.
    Alans Wagen von der BBC hielt direkt vor der Kirche. »Steig ein«, sagte er, und dann ließen sie die tobenden Journalisten hinter sich. Eine Weile fuhren sie kreuz und quer durch Notting Hill, bis sich die Menge vor der Kirche schließlich auflöste und sie dort halten konnten, wo er den Saab abgestellt hatte.
    Er stieg mit Marianne ins Auto, und mit einem Mal waren sie allein; die plötzliche Stille bedrückte sie beide. Sie schalteten das Radio nicht ein, da sie wussten, dass es in den Nachrichten nur um Hass gehen würde. »Wohin sollen wir fahren?«, fragte er, obwohl sie beide die Antwort kannten. Marianne hatte vor kurzem eine kleine Souterrainwohnung in der südwestlichen Ecke des Lonsdale Square in Islington gemietet, nicht weit vom Haus in der St. Peter’s Street, angeblich, um sie als Arbeitswohnung zu nutzen, in Wahrheit aber wegen der wachsenden Spannung in ihrer Ehe. Nur wenige Leute wussten von diesem Apartment. Es würde ihnen Raum und Zeit geben, zu sich zu kommen und Entscheidungen zu treffen. Schweigend fuhren sie nach Islington. Es schien nichts weiter zu sagen zu geben.
    Marianne war eine ausgezeichnete Schriftstellerin und eine schöne Frau, doch hatte er so manches herausgefunden, was ihm an ihr nicht gefiel.
    Als sie zu ihm zog, hinterließ sie auf dem Anrufbeantworter seines Freundes Bill Buford, des Herausgebers der Zeitschrift Granta , die Nachricht, dass sich ihre Telefonnummer geändert habe. »Die neue Nummer kennst du bestimmt«, fuhr sie fort, um dann nach einer, wie Bill fand, erschreckenden Pause hinzuzusetzen: » Ich hab ihn .« In der aufgewühlten Zeit unmittelbar nach dem Tod seines Vaters im November 1987 hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, doch war es mit ihrer Beziehung nicht lange gutgegangen. Seine engsten Freunde, Bill Buford, Gillon Aitken und dessen amerikanischer Kollege Andrew Wylie, die guyanische Schriftstellerin Pauline Melville und seine Schwester Sameen, die ihm stets näher als irgendjemand sonst gestanden hatte, sie alle eröffneten ihm, dass sie Marianne nicht besonders mochten, was Freunde natürlich tun, wenn eine Ehe zerbricht, weshalb er sich sagte, dass er nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen durfte. Allerdings hatte er seine Frau selbst bei einigen Lügen ertappt, und das machte ihn ziemlich betroffen. Was hielt sie nur von ihm? Oft schien sie verärgert zu sein und hatte so eine Art, über seine Schulter hinweg in die Luft zu starren, wenn sie mit ihm redete, beinahe als unterhielte sie sich mit einem Gespenst. Ihren scharfen Verstand, ihren Humor hatte er stets gemocht, und beides gab es noch, auch die körperliche Anziehung war noch da, das wogende, rotbraune Haar, die vollen Lippen, das offene, amerikanische Lächeln. Dennoch war sie ihm ein Rätsel geworden, und manchmal glaubte er, eine Fremde geheiratet zu haben. Eine Frau mit einer Maske.
    Es war früh am Nachmittag, und an diesem Tag schienen ihre privaten Zwistigkeiten bedeutungslos. An diesem Tag marschierte eine Menschenmenge durch die Straßen Teherans, in den Händen Poster mit seinem Gesicht, dem die Augen ausgestochen waren, so dass er an eine der Leichen in Die Vögel erinnerte

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