Joyland
I ch besaß zwar einen Wagen, aber in jenem Herbst des Jahres 1973 ging ich von Mrs. Shoplaws Strandquartier im kleinen Örtchen Heaven's Bay aus meistens zu Fuß nach Joyland. Irgendwie erschien mir das angemessen. Sehr sogar. Anfang September war Heaven Beach völlig verlassen, was gut zu meiner Stimmung passte. Jener Herbst war der schönste meines Lebens. Selbst vierzig Jahre später kann ich das noch sagen. Und ich war nie unglücklicher – auch das kann ich sagen. Die Leute glauben, die erste Liebe sei die reine Wonne, vor allem im Nachhinein, wenn diese erste Bindung dann in die Brüche geht. Jeder kennt tausend Pop- und Countrysongs, die von nichts anderem handeln; irgendeinem Trottel bricht das Herz. Beim ersten Mal tut das tatsächlich weh wie sonst nichts, und es dauert ewig, bis es heilt. Und die Narben, die zurückbleiben, sind nicht zu übersehen. Was, bitte, ist daran so toll?
*
Den ganzen September über bis in den Oktober hinein war der Himmel über North Carolina wolkenlos, und schon um sieben Uhr morgens, wenn ich von meiner Unterkunft im Obergeschoss die Außentreppe runter stieg, war es bereits angenehm warm. Oft hatte ich anfangs noch eine leichte Jacke an, aber bevor ich die Hälfte der fünf Kilometer zwischen Ort und Vergnügungspark zurückgelegt hatte, trug ich sie um die Taille geknotet.
Als Erstes schaute ich immer bei Betty's Bakery vorbei, wo ich mir zwei noch warme Croissants einpacken ließ. Mein Schatten, der mindestens zehn Meter lang war, ging auf dem Sand neben mir her. Über mir kreisten, vom Duft der Croissants in der Tüte angelockt, zahlreiche Möwen. Und wenn ich zurückschlenderte, in der Regel etwa um fünf (obwohl ich manchmal auch länger blieb – nach Heaven's Bay, eine Ortschaft, die weitgehend in tiefen Schlaf verfiel, wenn der Sommer vorbei war, zog mich nichts), begleitete mich mein Schatten auf dem Wasser. Bei Flut schwankte er auf der Oberfläche, als würde er ganz langsam Hula tanzen.
Auch wenn ich mir nicht restlos sicher bin, so glaube ich doch, dass der Junge und die Frau mit ihrem Hund schon beim ersten Mal da waren, als ich dort entlangging. Das Ufer zwischen dem Ort und dem funkelnden, kitschigen Joyland war von Sommerhäusern gesäumt, viele davon teuer, die meisten nach dem Labor Day dichtgemacht. Das größte darunter, das wie ein grünes Holzschloss aussah, allerdings nicht. Vom Hinterausgang führte ein Plankenweg zum Strand hinab, wo das Seegras in feinen weißen Sand überging. Am Ende des Plankenwegs stand im Schatten eines leuchtend grünen Sonnenschirms ein Tisch mit zwei Bänken. Darunter saß der Junge in seinem Rollstuhl, auf dem Kopf eine Baseballkappe und über den Beinen eine Decke, selbst noch spätnachmittags, wenn es fast dreißig Grad hatte. Ich schätzte ihn auf fünf Jahre, jedenfalls nicht auf älter als sieben. Der Hund, ein Jack-Russell-Terrier, lag entweder neben ihm oder hockte zu seinen Füßen. Die Frau saß auf einer der beiden Bänke, las ein Buch oder starrte einfach nur aufs Wasser hinaus. Sie war wunderschön.
Ich winkte ihnen jedes Mal, ob auf dem Hin- oder auf dem Rückweg, und der Junge winkte zurück. Sie nicht, zumindest anfangs nicht. 1973 war das Jahr der Ölkrise, das Jahr, in dem Richard Nixon erklärte, er sei ein ehrlicher Mann, das Jahr, in dem Edward G. Robinson und Noël Coward starben. Und es war Devin Jones' verlorenes Jahr. Ich war einundzwanzig, Jungfrau und hatte literarische Ambitionen. Ich besaß drei Paar Bluejeans, vier Paar Unterhosen und einen heruntergekommenen Ford (mit einem einwandfreien Radio), dachte hin und wieder über Selbstmord nach und hatte ein gebrochenes Herz.
Toll, was?
*
An dem gebrochenen Herzen war Wendy Keegan schuld, und sie hatte mich nicht verdient. Ich hab mehr als mein halbes Leben gebraucht, um das zu kapieren, aber wie heißt es so schön: besser spät als nie. Sie stammte aus Portsmouth in New Hampshire, ich aus South Berwick in Maine. Was sie praktisch zum Mädchen von nebenan machte. Wir hatten in unserem ersten Studienjahr an der UNH angefangen »miteinander zu gehen« (wie wir es damals ausdrückten). Kennengelernt hatten wir uns auf einer Erstsemesterparty – wirklich allerliebst, was? Genau wie in einem dieser Popsongs.
Zwei Jahre lang waren wir unzertrennlich; wir gingen überall zusammen hin, machten alles gemeinsam. Alles außer »es«. Wir mussten beide nebenher Geld verdienen, sie in der Bibliothek, ich in der Mensa. Uns wurde beiden angeboten, den
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