Joyland
»Das klingt doch spannend.«
»Ein paar Tage mit dir zu verbringen wäre auch spannend«, sagte ich.
»Dafür bleibt uns nächstes Jahr noch viel Zeit.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich (sie stellte sich dazu immer auf die Zehenspitzen). Traf sie sich damals schon mit dem anderen Typen? Wahrscheinlich nicht, aber aufgefallen war er ihr bestimmt, schließlich besuchte er dieselbe Soziologievorlesung. Renee St. Claire hätte das gewusst, und wahrscheinlich hätte sie es mir auch erzählt, wenn ich sie gefragt hätte (Sachen auszuplaudern war ihre Spezialität – während der Beichte kaute sie dem Priester bestimmt ein Ohr ab), aber manche Dinge will man einfach nicht wissen. Zum Beispiel dass das Mädchen, das man von ganzem Herzen liebte und das einen immer wieder vertröstete, bei der erstbesten Gelegenheit mit ihrem neuen Freund ins Bett hüpfte. Ich glaube, über seine erste Liebe kommt man nie ganz hinweg, und mich wurmt das alles immer noch. Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht nicht gut genug war. Fehlte es mir an irgendwas? Inzwischen bin ich über sechzig, meine Haare sind grau, und ich habe die erste Runde Prostatakrebs überlebt, aber ich will immer noch wissen, was Wendy Keegan an mir auszusetzen hatte.
*
Ich nahm den »Southerner« genannten Zug von Boston nach North Carolina (nicht eben spannend, aber billig) und einen Bus von Wilmington nach Heaven's Bay. Fred Dean führte das Vorstellungsgespräch mit mir – neben vielem anderen war er der Personalchef von Joyland. Nachdem ich eine Viertelstunde lang seine Fragen beantwortet und er einen Blick auf meinen Führerschein und mein Erste-Hilfe-Zertifikat geworfen hatte, reichte er mir einen Plastikbadge an einem Umhängeband. Darauf prangte das Wort BESUCHER, das heutige Datum und das gezeichnete Bild eines grinsenden, blauäugigen Schäferhundes, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem berüchtigten Zeichentrick-Spürhund Scooby-Doo hatte.
»Schauen Sie sich ruhig ein bisschen um«, sagte Dean. »Wenn Sie wollen, können Sie auch mit dem Carolina Spin fahren. Ein Großteil der Anlage ist noch nicht in Betrieb, aber das Riesenrad läuft schon. Richten Sie Lane einen Gruß von mir aus. Ich hab Ihnen zwar einen Tagespass gegeben, aber ich möchte, dass Sie bereits um …« Er schaute auf seine Uhr. »… um ein Uhr wieder da sind. Und mir dann sagen, ob Sie den Job haben wollen. Es sind noch fünf Stellen frei, aber im Grunde gleichen sie sich alle – Happy Helper eben.«
»Vielen Dank, Sir.«
Er nickte mit einem Lächeln. »Keine Ahnung, ob Ihnen unser Park gefallen wird, aber ich fühle mich hier wohl. Hier ist manches alt und klapprig, aber genau das finde ich so reizend. Zwischendurch hab ich mal bei Disney gearbeitet, aber das mochte ich nicht. Das ist mir … ich weiß nicht …«
»Zu unpersönlich?«, schlug ich vor.
»Genau. Zu unpersönlich. Zu aufgedonnert. Also bin ich vor ein paar Jahren wieder nach Joyland zurückgekommen. Und hab's nicht bereut. Hier läuft alles etwas lockerer ab – die Atmosphäre ist eher wie früher auf der Kirmes. Schauen Sie sich ruhig alles an. Mal sehen, ob es Ihnen hier gefällt.«
»Darf ich Sie noch was fragen?«
»Natürlich.«
Ich hielt meinen Pass hoch. »Was ist das für ein Hund?«
Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Das ist ›Howie the Happy Hound‹, das Maskottchen von Joyland. Howie war der Hund von Bradley Easterbrook, dem Erbauer von Joyland. Das Tier ist schon lange tot, aber Sie werden ihm trotzdem öfter begegnen, wenn Sie im Sommer hier arbeiten.«
Damit sollte er recht behalten … und auch wieder nicht. Ein einfaches Rätsel, aber die Erklärung wird noch eine Weile warten müssen.
*
Joyland war als unabhängiges Unternehmen zwar nicht so groß wie die Six-Flags- Parks, von Disney ganz zu schweigen, aber doch recht beeindruckend, vor allem wegen der Hauptstraße, Joyland Avenue, und der zweitgrößten Straße, Hound Dog Way; so menschenleer wirkten sie wie eine achtspurige Autobahn. Ich hörte Motorsägen aufheulen, und überall wimmelte es von Arbeitern – der größte Trupp machte sich am Thunderball zu schaffen, einer der beiden Achterbahnen in Joyland –, aber Besucher gab es keine, da der Park erst am 15. Mai öffnen sollte. Ein paar Imbissbuden hatten auf, damit die Arbeiter sich versorgen konnten, und vor einer mit Sternen übersäten Wahrsagerbude stand eine alte Dame und musterte mich argwöhnisch. Alles andere war
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