Jud Sueß
Großen und die Kleinen unter den Juden, die Freien und die Beladenen, die Fernen und die Nahen. Nicht mit deutlichen Worten, nicht mit meßbarem Begriff, aber von Bluts und Gefühls wegen. Dies heimliche Wissen war es, das ihnen plötzlich jenes rätselhafte, milde, überlegene Lächeln um die Lippen legte, das ihre Feinde doppelt reizte, weil sie es als zersetzende Frechheit deuteten und weil all ihr Graus und Marter davor versagte. Dies heimliche Wissen war es, was die Juden einte und ineinanderschmolz, nichts sonst. Denn dies heimliche Wissen war der Sinn des Buches.
Des Buches, ja, ihres Buches. Sie hatten keinen Staat, der sie zusammenhielt, kein Land, keine Erde, keinen König, keine gemeinsame Lebensform. Wenn sie dennoch eins waren, mehr eins als alle anderen Völker der Welt, so war es das Buch, das sie zusammenschweißte. Braune, weiße, schwarze, gelbe Juden, große und kleine, prunkende und zerlumpte, gottlose undfromme, sie mochten in stillen Stuben ihr Leben verhocken und verträumen oder in farbigem, goldenem Wirbel herrlich herfahren über die Erde: tief versenkt in ihnen allen war die Lehre des Buches. Vielfältig ist die Welt, aber sie ist eitel und Haschen nach Wind; eins aber und einzig ist der Gott Israels, das Seiende, das Überwirkliche, Jahve. Manchmal wohl überwucherte ihnen das Leben dieses Wort, aber es stak in jedem, und in den Stunden, wo sie sie selber wurden, wenn sich ihr Leben gipfelte, war es da, und wenn sie starben, war es da, und was von einem zum andern flutete, war dieses Wort. Sie schnürten es sich mit Gebetriemen um Herz und Hirn, sie hefteten es an ihre Türen, sie eröffneten mit ihm ihren Tag, und sie schlossen ihn mit ihm; als erstes den Säugling lehrten sie das Wort, und der Sterbende verröchelte mit dem Wort. Aus dem Wort sogen sie die Kraft, die gehäuften Qualen ihres Wegs zu überdauern. Blaß und heimlich lächelten sie über die Macht Edoms, über seine Raserei und den Wahnsinn seines Geweses und Getriebes. Dies alles verging; was blieb, war das Wort.
Sie hatten das Buch mit sich geschleppt durch zwei Jahrtausende. Es war ihr Volk, Staat, Heimat, Erbteil und Besitz. Sie hatten es allen Völkern vermittelt, und alle Völker bekannten sich zu ihm. Aber die einzigen rechtmäßigen Besitzer, Erkenner und Verweser waren sie allein.
Sechshundertsiebenundvierzigtausenddreihundertundneunzehn Buchstaben hatte das Buch. Jeder Buchstab war gezählt und gewogen, geprüft und erkannt. Jeder Buchstab war bezahlt mit Leben, Tausende hatten sich martern und töten lassen um jeden Buchstaben. Nun war das Buch ganz ihr eigen. Und in ihren Bethäusern, an ihrem höchsten Feiertag, riefen sie, bekannten sie, die Stolzen, herrenhaft Schreitenden so überzeugt wie die Kleinen, Getretenen, Geduckten: nichts haben wir, nur das Buch.
Karl Alexander schickte Magdalen Sibylle prächtige Geschenke, flandrische und venezianische Gobelins, goldene Parfümfläschchen, spanische Arbeit, mit persischem Rosenöl,ein arabisches Reitpferd, ein Perlengehänge. Er war kein Filz, er ließ sich nicht lumpen, und er betrachtete Magdalen Sibylle als seine erklärte Mätresse. Täglich kam der Kammerdiener Neuffer, fragte förmlich im Auftrag des Herzogs nach dem Befinden der Demoiselle.
Magdalen Sibylle ließ sich alles kalt und wortlos gefallen. Sie ging stumm wie eine Tote, starr das männlich kühne, schöne Gesicht, verpreßt die Lippen, die Arme seltsam steif. Sie verließ das Haus nicht, sie sagte guten Morgen, guten Abend, sonst nichts, sie aß allein, sie kümmerte sich nicht um das Hauswesen. Sie hatte zu niemandem, zu ihrem Vater nicht, zu niemandem über die Sache mit dem Herzog gesprochen, es kam vor, daß sie ihren Vater tagelang nicht sah.
Weißensee wagte keinen Versuch, sie aus ihrer Starre zu wecken. Er war nobilitiert worden, er hatte jetzt den Rang eines Konferenzministers. Er war flatterig und sehr elend, er fühlte das Mißtrauen seiner Kollegen vom engeren landschaftlichen Ausschuß, er wollte sich aussprechen mit Harpprecht, dem Juristen, mit Bilfinger, der ein rechter, ehrlicher Mann war und sein Freund. Er wagte es nicht.
Magdalen Sibylle saß stundenlang und starrte. Sie war aus sich herausgeworfen, zertrampelt, zerfetzt, zerwüstet. Waren dies ihre Arme? Wenn sie sich stach, war das ihr Blut? Das Furchtbarste war: sie hatte keinen Haß gegen den Herzog. Sie suchte sich müd und nervös den Vorgang zurückzurufen. Sie roch in der Erinnerung den Weindunst und Schweiß
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