Judaswiege: Thriller
aufrichtete und das brennende Wrack sah. »Das hat also nicht gestimmt.«
—
Klara Swell riss jede Tür auf der Damentoilette im ersten Stock des Quest Center einzeln auf. Erst bei der dritten hatte sie Erfolg: abgeschlossen. Sie klopfte, wie auch an die fünfte und die achte.
»Mein Name ist Klara Swell, FBI, und dies ist ein Notfall. Bitte kommen Sie raus, es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
Da sieht man einmal wieder, was Angst bewirken kann, dachte Klara amüsiert, als ihr keine zehn Sekunden später drei dem Anlass entsprechend gekleidete Damen zitternd gegenüberstanden. Sie schätzte Gewicht und Größe ab und deutete dann auf eine zierliche Frau mittleren Alters, die ein sündhaft teuer aussehendes Abendkleid trug.
»Ihr Kleid bitte, Madam.«
»Wie bitte?«, fragte die Frau entgeistert.
»Sie haben schon verstanden. Ziehen Sie Ihr Kleid aus, Sie bekommen meine Sachen.«
Die grauhaarige Frau starrte sie ungläubig an. Klara kramte ihren Ausweis hervor und gewährte ihrem Gegenüber dabei einen großzügigen Blick auf ihre Dienstwaffe.
»Jetzt!«, fügte sie noch hinzu und begann ihre Schuhe auszuziehen. Wie so oft, wenn Menschen mit Autoritäten konfrontiert werden, wirken Ausweise und Waffen Wunder. Formulare helfen gar nicht, aber eine Waffe überzeugt noch fast jeden Amerikaner, dass es besser ist, seinerseits selbige umgehend zu strecken. Die Frau zog den Reißverschluss ihres Kleides auf und hielt es Sissi schneller hin, als sie selbst aus ihren Klamotten kam.
»Danke«, sagte Klara und stieg in die aufwendige Chiffonkonstruktion. Sie drückte der Frau ihren eigenen unordentlichen Kleiderstapel in die Hand und deutete dann mit einem Nicken auf ihre Füße: »Die Schuhe auch. Bitte«, sagte Klara.
Seufzend trat die Frau aus ihren farblich perfekt zu dem korallenfarbenen Kleid abgestimmten Schuhen und reichte sie Klara. Sie machte keine Anstalten, sich wieder anzuziehen. Klara steckte die Dienstwaffe und ihren Ausweis in die Handtasche der Frau. Dann nickte sie den drei verängstigen Besucherinnen des heutigen Konzerts zu und verschwand durch die Tür. Sie hatte keine Zeit zu verlieren.
Nach dem Verlassen der Waschräume nahm Klara ihren Platz auf der Balustrade des Foyers ein, den sie sich beim Hineingehen ausgesucht hatte. Von hier aus hatte sie eine perfekte Sicht auf den gesamten Vorraum des großen Konzertsaals. Sie hatte Sam noch auf dem Highway vorgeschlagen, eine von ihr entwickelte Methode zur Observierung besonders heikler Ziele einzusetzen. Die sogenannte »Predictive Observation« machte sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung zunutze, und sie hatte sogar aus dem Gefängnis einen Artikel dazu in einer Fachzeitschrift veröffentlicht, für den sie große Resonanz erhalten hatte. Den zu verfolgenden Personen wurde dabei jeweils ein Psychoraster zugrunde gelegt, und zusammen mit den Umgebungsdaten konnte das Modell relativ genau errechnen, wohin sich eine flüchtige Person orientieren würde.
Relativ, das war genau der Punkt, dachte Klara, während sie den Eingang im Auge behielt. Normalerweise wurden mindestens fünf Personen benötigt, um mit dem Modell gute Erfolgsaussichten zu garantieren und gleichzeitig das Risiko einer Entdeckung zu minimieren. Einer folgte dem Verdächtigen und versuchte, ihn in die Enge zu treiben. Die vier anderen verteilten sich auf die wahrscheinlichsten nächsten Ziele. So wurde bei exakten Berechnungen eine Genauigkeit von über sechsundneunzig Prozent erreicht. Da sie nur zu zweit waren, sank der Wert auf etwas über fünfzig Prozent, aber Klara baute darauf, dass ihr Psychogramm viel genauer war als diejenigen, die sie üblicherweise bei der Personenverfolgung verwendeten. Und es war ihr nicht schwergefallen, das Ziel mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu berechnen. Das zweitwahrscheinlichste war eine Kirche, die direkt neben dem Parkhaus lag, aber zur Zeit waren dort nur Touristen und Gelegenheitsbesucher zu erwarten. Die Festhalle, das mit 58,23 Prozent wahrscheinlichste Ziel von Rascal Hill war hingegen voller Menschen, die sich auf ein Konzert freuten. Es wurde gelacht, mit Sekt angestoßen, die Stimmung war ausgelassen, über der riesigen Vorhalle lag das konstante Gemurmel Dutzender sich überlagernder Gespräche. Wenn ihr wüsstet, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von 58,23 Prozent gleich ein Massenmörder mit einer geladenen Pistole hier auftaucht, wärt ihr nicht mehr so entspannt, wollen wir wetten?, dachte Klara und kniff die Augen
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