Judith McNaught
Charise
Lancaster«, wimmerte sie, und ihre Schultern begannen unter ihrem Schluchzen zu
beben. »Ich glaubte es wirklich, ich schwöre es.«
Reichlich spät fiel es Nicki ein,
sie in die Arme zu nehmen und ihr einen gewissen Trost anzubieten, und das tat
er auch, aber die passenden Worte zu dieser Geste fehlten ihm in diesem Moment
völlig. »Ich dachte, ich wäre es«, weinte sie an seiner Brust. »Ich dachte, ich
sei sie, bis sie heute ins Haus kam. Ich dachte es wirklich, ich schwöre es!«
»Ich glaube Ihnen«, antwortete
Nicki, ein wenig erstaunt darüber, daß das tatsächlich stimmte.
»Sie wollte nicht weggehen. Sie
wollte es ihm selbst erzählen. Er ... er bereitete sich gerade für die
Hochzeit vor. Eine ge ... geheime Hochzeit. Ich weiß nicht, wo ich hin soll ...
nichts zum Anziehen ... kein Geld.«
Um ihr wenigstens einen Lichtblick
in dem ganzen Elend zu bieten, sagte er: »Zumindest ist Ihr Vater nicht
gestorben.«
Ganz langsam hob sie den Kopf und
blickte ihn verständnislos an. »Was?«
»Langford
erhielt letzte Woche einen Brief, der von Burletons Vermieter an ihn
weitergeleitet worden war. Der Anwalt von Charise Lancasters Vater hatte ihn an
sie gerichtet, um ihr mitzuteilen, daß ihr Vater zwei Wochen, nachdem sie nach
England aufgebrochen war, gestorben war.«
Sie holte zitternd Luft, um diese,
Nachricht zu verarbeiten, und sagte düster: »Er war ein strenger Mann, aber
nicht unfreundlich. Er hat Charise schrecklich verwöhnt ...« Eine weitere
schmerzliche Wahrscheinlichkeit kam ihr in den Sinn, und sie hatte das Gefühl,
zu ersticken. »Letzte Woche – war das an dem gleichen Abend, als ich zu
Almack's und zu dem Ball der Rutherfords ging?«
»So hat man mir gesagt.«
Sie senkte noch gedemütigter den
Kopf und von neuem rannen Tränen über ihre Wangen. »Kein Wunder, daß er auf
einmal nicht mehr wollte, daß ich mir einen anderen Verlobten suche, sondern
beschloß, wir sollten sofort heiraten.« Sie dachte daran, wie sie in der Oper
seine Hand berührt hatte, und wie widerwärtig er das wohl gefunden haben mußte
– und wie sehr es ihn abgestoßen haben mußte, so zu tun, als wolle er sie küssen,
und ...
»Ich wünschte, ich wäre tot«,
flüsterte sie gebrochen.
»Hören Sie auf, so etwas zu sagen«,
erwiderte Nicki automatisch. »Sie können heute nacht hierbleiben. Morgen gehe
ich mit Ihnen zu den Langfords, und wir erklären ihnen alles.«
»Ich habe es ihm schon in einem
Brief erklärt. Ich kann nicht zurückgehen, und ich werde es auch nicht tun, das
verspreche ich Ihnen, und wenn Sie ihn benachrichtigen, drehe ich durch. Ganz
gewiß tue ich das. Nach allem, was passiert ist, kann ich nie wieder dorthin
zurück.«
Sie klang so, als meinte sie das,
was sie sagte, auch, und Nicki konnte es ihr noch nicht einmal übelnehmen.
Sherry wußte nicht sicher, wie lange
sie in seinen Armen geweint oder wann sie schließlich damit aufgehört hatte,
aber als das Schweigen andauerte, überkam sie schließlich eine gnädige
Gefühllosigkeit. »Ich kann nicht hierbleiben«, wisperte sie mit einer Stimme,
die rauh war von dem vorangegangenen Gefühlsausbruch.
»Wie Sie sagten, wissen Sie nicht,
wo Sie sonst hingehen sollten.«
Sie löste sich aus seiner
tröstlichen Umarmung und setzte sich auf. Dann erhob sie sich, leicht
schwankend. »Ich hätte gar nicht hierherkommen sollen. Ich wäre nicht
überrascht, wenn ein Haftbefehl gegen mich erginge.«
Der Gedanke, daß Langford das tun
könnte, erfüllte Nicki mit fast unerträglichem Zorn, aber er konnte diese
Möglichkeit und ihre unaussprechlichen Folgen nicht einfach von der Hand
weisen. »Hier sind Sie in Sicherheit, zumindest für heute nacht. Und morgen
früh besprechen wir, wie ich Ihnen helfen kann.«
Das Gefühl von demütiger Dankbarkeit
und Erleichterung, das sie durchflutete, weil er ihr tatsächlich Hilfe anbot,
ließ Sherrys mühsam errichtete Fassade der Beherrschung beinahe
zusammenbrechen. »Ich ... ich werde mir eine Stellung suchen müssen. Ich habe
keinerlei Referenzen. Ich kann nicht in London bleiben. Ich ...«
»Darüber reden wir morgen früh, chérie. Ich möchte, daß Sie jetzt zu Bett gehen. Ich werde Ihnen das Abendessen hinaufschicken
lassen.«
»Keiner, der ihn oder seine Familie
kennt, wird erwägen, mich einzustellen, und er – anscheinend kennt ihn jeder in
London.«
»Morgen früh«, ermahnte er sie fest.
Zu erschöpft, um zu protestieren,
nickte Sherry. Sie wollte gerade mit einem Dienstboten
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