Judith McNaught
»Wir
warten.«
Einundvierzigstes Kapitel
Nicholas DuVilles oberster Kammerdiener
hielt ihm eine weinrote, feine Tuchjacke hin und warf einen zustimmenden Blick
über das strahlend weiße Hemd und das Halstuch seines Herrn. »Wie ich schon
häufig gesagt habe, Sir«, bemerkte er, als Nicki den letzten Knopf an seiner
weinroten Samtweste schloß, »kein Engländer kommt auch nur annähernd an Ihr
Geschick beim Binden des Halstuchs heran.«
Nicki warf ihm einen amüsierten
Blick zu. »Und wie ich Ihnen schon oft erwidert habe, Vermonde, liegt das
daran, daß ich mehr Franzose als Engländer bin und daß Sie etwas gegen die
Engländer haben ... « Er hielt inne, als der Kammerdiener zur Tür seines
Schlafzimmers ging, an der jemand laut geklopft hatte.
»Ja, was gibt es?» fragte Nicki,
überrascht darüber, daß sein Kammerdiener es einem niederen Lakaien gestattete,
in seine Privatsphäre einzudringen.
»Ich soll Ihnen sagen, daß eine
junge Dame Sie erwartet, Mylord. Sie ist im blauen Salon und völlig außer sich.
Sie sagt, Sie kennen sie als Miss Lancaster. Der Butler hat versucht, sie
wegzuschicken, als er sah, daß sie in einer Mietdroschke ankam, und da er sie
nicht kennt; aber sie war äußerst hartnäckig. Und es geht ihr auch nicht gut,
glauben wir, weil ... «
Seine Stimme erstarb, als er den
finsteren Ausdruck auf dem Gesicht seines Herrn bemerkte, der rasch zur Tür
schritt und dabei vor lauter Eile den überraschten Lakaien fast umrannte.
»Sherry?« fragte Nicki alarmiert, und seine
Besorgnis wuchs, als sie ihn verstört und völlig außer sich anblickte. Tränen
rannen über ihr Gesicht, das so weiß war, daß ihre silbergrauen Augen fast
schwarz darin wirkten. Sie kauerte so dicht auf der Kante des Sofas, als wolle
sie entweder aufspringen oder gleich vornübersinken. »Was ist geschehen?«
»Ich ... ich habe mein ...
Gedächtnis wieder«, schluchzte Sherry mit erstickter Stimme. »Ich ... ich bin
eine Betrügerin. Alle sind ... Betrüger. Charise war mit Burleton verlobt.
Warum hat Stephen so ... so getan? Nein, ich ... ich habe so getan ...
»Sprechen Sie nicht weiter«, befahl
Nicki scharf und ging zu einem Tablett, auf dem Gläser und Karaffen standen. Er
goß reichlich Brandy in ein Glas und brachte es ihr. »Trinken Sie das. Alles«,
fügte er hinzu, als sie nur einen kleinen Schluck nahm, sich schüttelte und ihn
beinahe wieder ausgespuckt hätte. »Es wird Ihnen helfen, sich rasch zu beruhigen«,
fuhr Nicki fort. Er glaubte, sie sei so hysterisch, weil sie nun wußte, daß sie
niemals mit Stephen Westmoreland verlobt gewesen war.
Sie sah ihn an, als sei seine Sorge
um sie der reine Wahnsinn, gehorchte aber wie ein Automat und trank hustend
den scharfen Schnaps.
»Versuchen Sie, einige Minuten lang
nicht zu sprechen«, sagte er, als sie den Mund öffnete, um wieder zu beginnen.
Sherry gehorchte hilflos. Sie starrte auf ihre Hände und spürte, wie sich der
Schnaps einen Weg zu ihrem Magen brannte. Im ersten Schock, ihr Gedächtnis
wiedererlangt zu haben, zu wissen, wer und was sie war, Charise zu sehen und
den schrecklichen Anschuldigungen, die sie machte, zuzuhören, war sie wie eine
Irre aus dem Haus geflohen. Sie war fast eine Stunde lang herumgeirrt und hatte
fieberhaft nach einer Möglichkeit gesucht, wie sie Stephen davon überzeugen
konnte, daß sie ihn liebte und daß sie ihn niemals angelogen hätte, ganz
gleich, was Charise ihm erzählte, bis sie plötzlich eine andere Erkenntnis wie
ein Schlag getroffen hatte: Stephen Westmoreland war nie mit Charise Lancaster
verlobt gewesen! Ihr Verlobter hieß Burleton! Alle hatten nur irgendein Spiel
gespielt!
Danach waren ihr immer mehr
erstaunliche Dinge eingefallen, und sie hatte mit dröhnendem Kopf in einem
Park gesessen und ihre Gedanken hatten sich überschlagen. Und nun wollte sie
Antworten von jemandem, der keinen einzigen Grund dafür hatte, sie anzulügen,
und der Brandy gab ihr das Gefühl, daß sie nun jede Erklärung ertragen konnte.
»Ich schicke jemanden zu Langford«,
sagte Nicki. Sie hatte wieder ein bißchen Farbe bekommen, ihre Antwort jedoch
klang so panisch, daß er merkte, wie nahe sie immer noch vor einem hysterischen
Anfall stand.
»Nein! Nein! Bitte nicht!«
Er setzte sich in einen Sessel ihr
gegenüber und sagte beruhigend: »Nun gut. Ich werde dieses Zimmer nicht verlassen,
bis Sie es mir erlauben.«
»Ich muß Ihnen einiges erklären«,
sagte Sherry und zwang sich zu einem ruhigen und beherrschten
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