Judith McNaught
sie?« Als er ihr erklärt hatte, ihr Vater sei Witwer und sie sein
einziges Kind, hatte sie ihn mit ihren großen, flehenden Augen angesehen und
ihn gefragt: »Lieben wir uns sehr?«
Bei all ihren Gesprächen
entschlüpfte ihr nur einmal etwas Entscheidendes, an das er sich erinnern
konnte. Er hatte ihr gerade gesagt, sie müsse eine Anstandsdame haben, wenn sie
in seinem Haus bliebe, und sie hatte gelacht. »Ich brauche keine
Gesellschafterin, ich bin eine ...« Ihr einziger Ausrutscher, aber im
Rückblick ein verdammt ausreichender Beweis.
Sie war so gut mit der Dienerschaft
ausgekommen, weil sie selbst dazu gehörte.
»Mein Gott, was für eine intrigante,
brillante kleine Opportunistin sie war«, dachte Stephen laut und knirschte mit
den Zähnen. Sie hatte wahrscheinlich gehofft, sie könne ihn dazu überreden, ihr
seinen Schutz anzubieten und ihr ein Haus zu schenken, und statt dessen bot er
ihr seinen Namen an!
Er schüttete den Rest seines Drinks
hinunter, als könne er damit seine Selbstverachtung wegspülen, dann stand er
auf und ging in sein Ankleidezimmer.
Trotz ihres heftigen Protests in der
Kutsche, als sie von Almack's weggefahren waren, hatte diese rothaarige Hexe
in weniger als einer Stunde eingewilligt, ihn zu heiraten, und sie hatte es so
aussehen lassen, als habe er sie überzeugt.
Er riß sein Hemd herunter und warf
es auf den Boden. Ihm dämmerte, daß er vorgehabt hatte, diese Kleider auf seiner
Hochzeit zu tragen, und er warf jedes Kleidungsstück, das er auszog, auf den
immer größer werdenden Haufen. Gerade als er sich einen Schlafrock anzog, kam
Damson herein. Der erschrockene Kammerdiener bückte sich, um die Sachen
aufzuheben.
»Verbrennen Sie sie!« knirschte
Stephen. »Bringen Sie sie hier weg und gehen Sie ins Bett. Und schicken Sie
morgen früh jemanden, der alles wegschafft, was sie hiergelassen hat.«
Er stand am Kamin, mit dem Rest aus
der Flasche in seinem Glas, als es noch einmal an der Tür klopfte. »Was zum
Teufel ist denn jetzt noch?« fragte er. Burletons Butler stand im Türrahmen und
sah so zerquält aus, als habe man ihn aufs Rad geflochten.
»Ich ... ich möchte mich in nichts
einmischen, was nicht zu meinen Angelegenheiten zählt, Mylord, aber ich ... ich
würde mich ... ich würde es auch nicht richtig finden, wenn ich Ihnen eine Information
vorenthielte, die Sie ... Sie vielleicht gerne erfahren möchten.«
Stephen mußte sich sehr
zusammenreißen, um seinen Abscheu vor dem alten Diener, der ihn nun an
Sheridan Bromleigh erinnerte, zu verbergen. »Haben Sie die Absicht, es mir zu
sagen, oder wollen Sie die ganze Nacht hier herumstehen?« zischte er
schneidend.
Der alte Mann schien unter seinem
scharfen Tonfall zusammenzuschrumpfen. »Dr. Whitticomb sagte mir, ich solle
ein Auge auf Miss Lan ... auf die junge Lady haben.«
»Und?« fauchte er wütend.
»Und als sie heute in solch einem
Zustand das Haus verließ, fühlte ich mich verpflichtet, ihr einen Lakaien
hinterherzuschicken, damit er sie beobachtete. Sie ... sie ging zum Haus von
Monsieur DuVille, Mylord. Und dort ist sie nun ...« Seine Stimme erstarb unter
dem mörderischen Blick, den ihm der Earl zuwarf, als er die Neuigkeit hörte,
und mit einer Verbeugung zog er sich hastig aus dem Zimmer zurück.
DuVille! Sie war zu DuVille
gegangen. »Kleines Luder!« knurrte er.
Er erwog nicht, ihr
hinterherzulaufen. Für ihn war sie jetzt gestorben, und es kümmerte ihn einen
Dreck, wo sie hinging oder in wessen Bett sie lag. Sie besaß einen ausgeprägten
Überlebenssinn, und ganz gleich, wo sie hinging, sie würde immer wieder auf den
Fügen landen. Mit boshaftem Lächeln überlegte er, welches Ammenmärchen sie wohl
DuVille heute aufgetischt hatte, um ihn zu überreden, sie unter seinem Dach
aufzunehmen. Wie auch immer, DuVille besaß einen ähnlich ausgeprägten
Überlebenssinn, und er hatte sich nie so von ihr behexen lassen wie Stephen.
Wahrscheinlich würde DuVille ihr
irgendwo ein nettes kleines Haus einrichten, wenn sie ihn hübsch darum bat und
ihm im Bett Vergnügen bereitete.
Die rothaarige Hexe war eine
geborene Kurtisane, wenn es je eine gegeben hatte.
In Nicholas DuVilles Haus stand Sherry am
Fenster der Gästesuite und starrte hinaus in die Nacht. Sie hielt die Stirn an
das kalte Glas gepreßt, und ihre Augen brannten vor ungeweinten Tränen. In den
sechs Stunden, seit sie sich auf Nicholas' Drängen hier oben befand, hatten
sich ihre Gedanken geordnet, und mit dieser Klarheit kam die
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