Judith McNaught
Erkenntnis
dessen, was sie beinahe besessen hätte – und verloren hatte –, und sie wußte
nicht, wie sie es ertragen sollte.
Sie wandte sich vom Fenster ab, ging
ruhelos hinüber zum Bett und legte sich nieder, zu erschöpft, um die
Erinnerungen zurückzudrängen. Sie schloß die Augen, um zu schlafen, aber sie
sah nur sein träges Lächeln und den zärtlichen Blick, mit dem er sie auf dem
Ball der Rutherfords angesehen hatte. »Miss Lancaster ... darf ich Sie um
das Vergnügen dieses Tanzes bitten?« Sie schluckte heftig und kniff ihre
Augen noch fester zu, aber im Geiste spürte sie seinen Kuß, so wie er sie in
der Kutsche geküßt hatte. »Deswegen werden wir heiraten«, hatte er
heiser geflüstert. Bestimmt, dachte sie schmerzerfüllt, hatte er nicht nur so
getan, als ob er sie gerne küßte. Bestimmt hatten sie nicht nur so getan. Sie
wollte, sie mußte glauben, daß einiges auch echt gewesen war. Wenn sie daran
nicht mehr glauben konnte, wußte sie nicht, wie sie noch weiterleben sollte.
Die Erinnerung daran und an die
anderen Male, wo er sie geküßt hatte, gehörten ihr ganz allein. Sie gehörten
nicht »Charise Lancaster«. Sie gehörten ihr. Sie rollte sich auf den Bauch und
hielt ihre Erinnerungen fest. Und als sie einschlief, träumte sie von starken
Armen, die sie umschlungen hielten, und von fordernden Küssen, die ihr den Atem
nahmen ... von zärtlichen Händen, die sie streichelten und quälten und sie
vergessen ließen, daß sie nicht zulassen durfte, daß er sie auf eine so intime
Weise berührte. Sie schlief und träumte von Dingen, die sie in Wirklichkeit nie
wieder erfahren würde.
Eingewickelt in einen Morgenmantel stand Whitney
im Kinderzimmer und blickte auf das engelsgleiche Gesicht ihres schlafenden
Sohnes. Als sich die Tür öffnete und ein Lichtstrahl hereinfiel, blickte sie
auf. Ihr Mann trat ein, mit einem Gesichtsausdruck, der so finster war, wie sie
ihn seit Jahren nicht an ihm gesehen hatte. »Ich konnte nicht schlafen«, flüsterte
sie, beugte sich vor und zog das leichte Leintuch über Noels Schultern zurecht.
Er hatte bereits das eckige Kinn seines Vaters und sein dunkles Haar.
Hinter ihr schlang Clayton seine
Arme um ihre Taille und bot ihr schweigend Trost an. »Habe ich dir in der
letzten Zeit eigentlich für meinen Sohn gedankt?« wisperte er in ihr Ohr und
lächelte auf den Dreijährigen hinunter.
»Nicht seit gestern nacht«, sagte
sie, hob ihm ihr Gesicht entgegen und versuchte zu lächeln.
Er ließ sich durch ihr Lächeln nicht
täuschen, ebensowenig wie sie sich dadurch täuschen ließ, daß er das Gespräch
über die geplatzte Hochzeit sorgfältig vermied. »Ich fühle mich so
schrecklich«, gestand sie ihm.
»Ich weiß«, entgegnete er ruhig.
»Ich werde nie den Ausdruck auf
Stephen Gesicht vergessen, als es später und später wurde, und er merkte, daß
sie nicht mehr zurückkommen würde.«
»Ich auch nicht«, erwiderte er
gepreßt.
»Er hat den Vikar bis ungefähr zehn
Uhr abends festgehalten. Wie konnte sie ihm so etwas antun? Wie konnte sie
nur?«
»Keiner von uns kannte sie
wirklich.«
»Stephen war verrückt nach ihr. Ich
konnte es jedes Mal sehen, wenn er sie anblickte und versuchte, es nicht zu
tun.«
»Ich weiß«, erwiderte er knapp.
Sie schluckte schwer an dem Kloß in
ihrem Hals und sagte: »Wenn Stephen nicht eingegriffen hätte, wärst du jetzt
mit Vanessa verheiratet und ich mit irgend jemand anderem, und Noel gäbe es
nicht.«
Clayton strich ihr das zerzauste
Haar von der Schulter und gab ihr einen beruhigenden Kuß auf die Schläfe, als
sie mit schmerzerfüllter Stimme fortfuhr: »Ich wollte ihm das alles schon immer
zurückzahlen, aber ich konnte nur immer wünschen, daß er jemanden finden würde,
mit dem er so glücklich wäre, wie wir es sind.«
»Komm zu Bett, Liebling«, sagte
Clayton, beugte sich vor und fuhr seinem Sohn leicht über den Kopf. »Stephen
ist ein erwachsener Mann«, fügte er hinzu, während er sie zu ihrem gemeinsamen
Schlafzimmer führte. »Er wird darüber hinwegkommen, weil er es will.«
»Bist du so leicht darüber
hinweggekommen, als wir ...« Sie zögerte, weil sie die gräßliche Nacht nicht
erwähnen wollte, die beinahe alle Chancen einer Heirat für sie beide zerstört
hätte, »als wir uns so entfremdet hatten?«
»Nein.«
Als sie beide im Bett lagen und sie
sich in seine Armen kuschelte, fuhr er fort: »Ich kannte dich aber auch schon
länger als Stephen Ch ... Sheridan Bromleigh.«
Sie nickte.
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