Judith McNaught
seiner Hilfe abhing, gestand Whitney: »Es ist Sheridan Bromleigh.
Ich wollte es dir nicht vorher sagen aus Angst, sie würde nicht hier sein oder
du würdest nicht kommen wollen.«
Sein Gesichtsausdruck verhärtete
sich sofort, als sie den Namen der anderen Frau erwähnte, und sie blickte mit
flehenden grünen Augen in seine kühlen grauen. »Bitte, Clayton, verurteile sie
nicht ohne Grund. Wir haben niemals ihren Standpunkt in der ganzen
Angelegenheit gehört.«
»Weil sie davongelaufen ist, das
kleine schuldbewußte Luder. Die Tatsache, daß sie die Oper liebt, was wir
schon wußten, ändert daran nichts.«
»Deine Loyalität Stephen gegenüber
trübt dein Urteilsvermögen.« Als er darauf nicht reagierte, beharrte Whitney
mit freundlicher, aber fester Entschlossenheit. »Sie kommt nicht wegen der
Vorstellungen hierher. Sie blickt niemals zur Bühne, sie schaut nur Stephen an,
und sie sitzt immer in den Reihen hinter seiner Loge, so daß er sie noch nicht
einmal entdecken könnte, wenn seine Aufmerksamkeit von der Bühne abgelenkt
würde. Bitte, Liebling, sieh doch selbst.«
Er zögerte einen endlosen Augenblick
lang, stimmte dann aber mit einem kurzen, wortlosen Nicken zu und warf einen Blick
in die Richtung, die sie ihm gezeigt hatte, nämlich weit rechts. »Einfache
dunkelblaue Haube mit einem blauen Band«, fügte Whitney hilfreich hinzu, »und
ein dunkelblaues Kleid mit einem weißen Kragen.«
Sie sah sofort, daß Clayton Sheridan
in der Menge gefunden hatte, weil seine Kinnmuskeln hart wurden und sein Blick
sofort wieder zurück zur Bühne wanderte, wo er auch blieb, bis sich die
Vorhänge hoben. Enttäuscht, aber nicht geschlagen, beobachtete sie ihn aus den
Augenwinkeln und wartete auf eine winzige Veränderung in seiner Haltung, die ihr
anzeigen könnte, daß er einen zweiten Blick riskierte. In dem Moment, als sie
das spürte, warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu. Er hatte seinen Kopf nur
unmerklich nach rechts von der Bühne weggedreht, seine Augen jedoch waren ganz
nach rechts gerichtet. Whitney betete, daß Sheridan Bromleigh nicht gerade in
diesem Moment zum ersten Mal seit Wochen der Vorstellung zusah. Sie beugte sich
leicht vor, um an Claytons Schultern vorbeizuspähen, und lächelte erleichtert.
In den nächsten beiden Stunden
überwachte Whitney vor sichtig ihren Mann und Sheridan Bromleigh, sorgfältig
darauf bedacht, ihren Körper nicht so auffällig zu bewegen, daß er mißtrauisch
wurde. Am Ende des Abends schmerzten ihre Augen, aber sie war voller Triumph.
Claytons Blick war während des ganzen Abends immer wieder zu Sheridan
zurückgekehrt, aber Whitney sprach das Thema erst zwei Tage später an, als sie
glaubte, er habe in der Zwischenzeit seine Einstellung zu Stephens früherer
Verlobter vielleicht überdacht.
Sechsundvierzigstes Kapitel
»Erinnerst du dich noch an den Abend in der
Oper?« fragte sie vorsichtig, während die Lakaien ihr Frühstücksgeschirr
abräumten.
»Ich fand, es war eine 'fesselnde'
Aufführung, ganz wie du gesagt hast«, erwiderte Clayton mit ausdruckslosem Gesicht.
»Der Tenor, der ...«
»Du hast der Aufführung gar nicht
zugesehen«, unterbrach sie ihn entschlossen.
»Du hast recht.« Er grinste. »Ich
habe dir zugesehen, wie du mich beobachtet hast.«
»Clayton, bitte, sei doch einmal
ernst. Das ist wichtig.«
Seine Brauen hoben sich fragend, und
er schenkte ihr vollste Aufmerksamkeit, aber er sah erheitert, wachsam und vorbereitet
aus.
»Ich möchte
Stephen und Sheridan Bromleigh einander gegenüberstellen. Ich habe gestern mit
Victoria darüber gesprochen, und sie fand auch, daß man sie zumindest dazu
zwingen müßte, miteinander zu reden.«
Sie wappnete sich für einen Streit
und starrte ihn fassungslos an, als er beiläufig antwortete: »Ein ähnlicher Gedanke
ist mir auch gekommen, und deshalb habe ich gestern abend im Strathmore Stephen
darauf angesprochen.«
»Warum hast mir nichts davon
erzählt? Was hast du gesagt? Und was hat er geantwortet?«
»Ich sagte«, berichtete Stephen,
»daß er meiner Meinung nach mit Sheridan Bromleigh reden sollte. Und ich
erzählte ihm, daß sie extra in die Oper geht, um ihn zu sehen.«
»Und was ist dann passiert?«
»Nichts ist
passiert. Er stand auf und ging weg.«
»Das war
alles? Er hat nichts geantwortet?«
»Doch, eigentlich schon. Er sagte,
daC er aus Achtung vor unserer Mutter der Versuchung widerstehen würde, mir gegenüber
gewalttätig zu werden, aber wenn ich noch einmal in seiner
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