Judith McNaught
überlassen,
wie er jetzt merkte.
Die Schultern des alten Mannes
sanken herab. Stephen sah ihm nach, wie er davonschlurfte. Er sah zehn Jahre
älter aus als beim Hereinkommen.
Vierundvierzigstes Kapitel
Es war ein Fehler, Stephen zu beobachten,
selbst aus dieser Entfernung, und Sherry wußte es, aber sie konnte anscheinend
nicht anders. Er hatte ihr gesagt, daß er donnerstags meistens in die Oper ginge,
und sie wollte – mußte – ihn noch einmal sehen, bevor sie England verließ. Sie
hatte vor drei Wochen ihrer Tante geschrieben, gleich am Tag nach der
geplatzten Hochzeit, hatte ihr alles erklärt, was geschehen war und Cornelia
gebeten, ihr genug Geld für die Heimreise zu schicken. In der Zwischenzeit
hatte Sherry eine Stellung als Gouvernante bei einer großen Familie angetreten,
die nicht über die Mittel verfügte, eine wünschenswertere ältere Frau
einzustellen oder den Empfehlungsbrief zu überprüfen, den Nicholas DuVille ihr
geschrieben hatte. Charity Thorntons Name war als zweite Referenz aufgeführt –
eine Empfehlung, von der die alte Dame, wie Sherry vermutete, nichts wußte.
Im überfüllten Parkett von Covent
Garden wimmelte es von lärmenden, ausgelassenen Menschen, die Sherry auf die
Füße traten und ihr ständig gegen die Schulter stießen, aber sie merkte es
kaum. Ihr Blick war auf die leere Loge gerichtet, die siebte von vorne, und sie
starrte dorthin, bis die vergoldeten Blumen und Sterne auf der Vorderseite der
Loge ihr vor den Augen verschwammen. Die Zeit blieb stehen, und das
Durcheinander in der Oper schwoll zu einem betäubenden Lärm an. Plötzlich
teilten sich die Vorhänge hinter der siebten Loge, und Sherry erstarrte. Ihr
Herz raste. Endlich würde sie ihn sehen ... und dann war sie völlig niedergeschmettert,
weil sie ihn in der Gruppe nicht entdecken konnte.
Vielleicht hatte sie sich verzählt,
überlegte sie fieberhaft, und begann, die Logen neu abzuzählen. Sie musterte
jedes Gesicht ihrer aristokratischen Insassen. Jede Loge war von der
Nachbarloge durch eine schmale Goldsäule getrennt, und an jeder Säule hing ein
Kronleuchter. Sherry zählte die Logen wieder und wieder ab, dann blickte sie
auf ihre Hände in ihrem Schoß und krampfte sie noch fester zusammen, damit sie
aufhörten zu zittern. Er kam heute abend nicht. Er hatte seine Loge anderen
Leuten überlassen. Es würde noch eine Woche dauern, bevor es für sie wieder
einen Grund gab herzukommen, vorausgesetzt, sie sparte genug Geld, um sich wieder
eine Eintrittskarte leisten zu können.
Die ersten Töne der Musik erklangen,
die roten Vorhänge schwangen auf, und Sherry zählte im Geiste die Minuten. Sie hörte
nicht auf die Musik, die sie früher einmal geliebt hatte, sondern blickte wie
unter Zwang immer wieder auf die zwei leeren Logenplätze, in der Hoffnung, ihn
doch noch zu Gesicht zu bekommen. Wenn sie nicht hinsah, betete sie, er möge
bei ihrem nächsten Blick da sein.
Er kam zwischen dem ersten und
zweiten Akt, ohne daß sie bemerkte, wie er die Loge betrat und sich hinsetzte –
ein dunkles Gespenst aus den Tiefen ihrer Erinnerung, das auf einmal in ihrer
Wirklichkeit erschien und ihr Herz in Flammen setzte. Ihr Blick hing gebannt
an seinem harten, gutaussehenden Gesicht, und hinter einem Tränenschleier
prägte sie sich jede Linie für die Ewigkeit ein.
Er hatte sie nicht geliebt, rief sie
sich in Erinnerung, während sie sich mit seinem Anblick quälte, er hatte sich
nur irrtümlich für sie verantwortlich gefühlt. Sie wußte das alles, aber es konnte
sie nicht davon abhalten, seine Lippen zu betrachten und daran zu denken, wie
sanft sie die ihren berührt hatten, oder sein Profil anzusehen und sich daran
zu erinnern, wie sein langsames, verwirrendes Lächeln sein ganzes Gesicht
veränderte.
Sheridan war nicht die einzige Frau,
die mit ihren Gedanken nicht der Vorstellung folgte. Auf der gegenüberliegenden
Seite des Theaters, in der Loge des Duke of Claymore, betrachtete Victoria,
Marchioness of Wakefield, aufmerksam die Menge im Parkett. Sie suchte nach der
jungen Frau, die sie zufällig gesehen hatte, als sie sich ihren Weg in das
Opernhaus bahnte. »Ich weiß, daß die Frau, die ich sah, Charise Lanc ..., ich
meine, Sheridan Bromleigh, gewesen ist«, flüsterte Victoria Whitney zu. »Sie
stand in der Schlange vor dem Parkett. Warte – da sitzt sie!« rief sie leise
aus. »Sie trägt eine dunkelblaue Haube.«
Ohne auf die neugierigen Blicke
ihrer Ehemänner zu achten, die hinter ihnen
Weitere Kostenlose Bücher