Judith McNaught
dessen mit einem verschwörerischen
Zwinkern. »Das bleibt unser kleines Geheimnis.« Er war schon halb die
Vordertreppe hinuntergegangen, als ihm auffiel, daß es sich bei dem Butler gar
nicht um Colfax, sondern einen anderen, viel älteren Mann gehandelt hatte.
Aber das spielte keine Rolle. Nichts
konnte in diesem Augenblick seine gute Laune beeinträchtigen.
Seine Kutsche wartete an der
Straßenecke, aber der Abend war so schön, und er befand sich in einer solchen
Hochstimmung, daß er beschloß, zu Fuß zu gehen. Seinem Kutscher befahl er, ihm
zu folgen. Seit Jahren hatten er und die Familie Westmoreland hilflos und
konsterniert zugesehen, wie sich die verschiedensten Frauen Stephen an den Hals
warfen. Ihre Gier nach seinem Titel, seinem Reichtum und einer Verbindung mit
der Familie Westmoreland hatten Stephen, der früher ein charmanter und
warmherziger junger Mann gewesen war, mittlerweile hart und zynisch werden
lassen.
Er war bei jeder Gastgeberin und
jeder potentiellen Schwiegermutter gern gesehen, und man behandelte ihn mit dem
ehrerbietigen Respekt, der seinem unermeßlichen Reichtum und dem Einfluß seiner
Familie in der Gesellschaft zukam. Und er wurde begehrt – aber nicht für das,
was er war, sondern dafür, wer er war und was er besaß.
Als scheinbar ewiger Junggeselle
stellte er eine immer größere Herausforderung für verheiratete und unverheiratete
Frauen dar, bis es schließlich soweit gekommen war, daß er einen Ballsaal nicht
mehr betreten konnte, ohne bei den weiblichen Gästen einen wahren Aufruhr
auszulösen. Er bemerkte das natürlich und durchschaute die Gründe, und je
stärker sein eigenes Ansehen wuchs, um so tiefer sanken die Frauen in seiner
Achtung. Mittlerweile verhielt er sich dem weiblichen Geschlecht gegenüber so
abgestumpft und geringschätzig, daß er in der Öffentlichkeit die Gesellschaft
seiner Geliebten der jeder angesehenen Frau aus seiner Schicht vorzog. Selbst
wenn er zur Saison nach London kam, was er schon seit zwei Jahren nicht mehr
getan hatte, erschien er bei keinem der größeren gesellschaftlichen Ereignisse,
sondern zog es vor, seine Abende entweder mit Freunden am Spieltisch oder mit
Helene Devernay in der Oper oder im Theater zu verbringen. Er zeigte sich so
offen mit ihr vor der beleidigten Gesellschaft, daß es schon an einen Skandal
grenzte – was seiner Mutter und seiner Schwägerin sehr zu Herzen ging.
Bis vor ein oder zwei Jahren hatte
er die Frauen, die sich ihm an den Hals warfen, zumindest toleriert und sie
lediglich mit amüsierter Geringschätzung behandelt, aber in letzter Zeit
brachte er offenbar auch dazu die Geduld nicht mehr auf. Nun konnte es
passieren, daß er einen niederschmetternden Verweis oder eine beißende
Unhöflichkeit von sich gab, die die geschmähte Dame unweigerlich in Tränen
ausbrechen ließen und ihre Verwandten aufs äußerste erzürnten, wenn sie davon
hörten.
Und doch ... heute abend hatte er
Charise Lancaster sein warmes Lächeln von früher geschenkt. Wahrscheinlich
resultierte seine Haltung zum Teil daraus, daß er sich verantwortlich für
ihre mißliche Lage fühlte – und das war er ja auch. Sie brauchte ihn gerade
jetzt ganz besonders. Aber nach Dr. Whitticombs Meinung brauchte Stephen sie
auch.
Freundlichkeit und Liebreiz fehlten
in seinem Leben, und vor allem brauchte er endlich die Erkenntnis, daß es noch
unverheiratete Frauen auf der Welt gab, die mehr von ihm wollten und
brauchten als nur seinen Titel, sein Geld und seinen Besitz.
Selbst in ihrem verletzlichen
Zustand schien Charise Lancaster seinem Titel oder der Größe und Eleganz
seines Heims keine Bedeutung zuzumessen. Sie ließ sich weder von ihm noch von
seinem Vermögen einschüchtern, und auch seine Aufmerksamkeit flößte ihr keine
Scheu ein. Heute abend hatte sie Hugh mit einer natürlichen Wärme begrüßt, die
er unwiderstehlich fand, und sie hatte laut über Stephens galante Worte
gelacht. Sie war erfrischend freimütig und überhaupt nicht eingebildet, und
gleichzeitig doch so lieb und sanft, daß Stephens Vernachlässigung sie
niedergeschmettert hatte. Sie gehörte zu den seltenen jungen Frauen, die
zuerst an die Bedürfnisse anderer dachten und die Beleidigungen offensichtlich
anmutig und großzügig verziehen. Als sie in den ersten Tagen ihrer Genesung
noch ans Bett gefesselt gewesen war, hatte sie Hugh ständig gebeten, »dem Earl«
zu versichern, sie würde wieder gesund werden und ihr Gedächtnis
wiedererlangen, damit er sich
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