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Judith McNaught

Judith McNaught

Titel: Judith McNaught Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Legenden der Liebe
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mit
der Hand über den Nacken, als könne er so das Mißvergnügen und die Langeweile
fortwischen, die er die ganze Zeit über empfunden hatte. Er hatte neben Helene
in der Theaterloge gesessen und der Darbietung auf der Bühne kaum Beachtung
geschenkt, und wenn, dann nur, um an den Schauspielern, den Musikern, dem
Bühnenbild oder an dem Parfüm der ältlichen Matrone, die in der Loge neben
ihnen saß, herumzukritisieren. In seiner Ruhelosigkeit schien ihn alles entweder
zu langweilen oder zu ärgern.
    Die ungewöhnlich freundliche
Stimmung, in der er sich zuvor befunden hatte, als Sherry mit ihm zu Abend
gegessen und ihn mit ihren witzigen – und oft scharfsinnigen – Beobachtungen
über ihre jüngsten Entdeckungen in den Zeitungen unterhalten hatte, war wie
fortgeblasen gewesen, sobald er das Haus verlassen hatte.
    Gegen Ende des ersten Akts hatte
Helene sein Mißvergnügen gespürt, und sie hatte, einladend hinter ihrem Fächer
hervorlächelnd, geflüstert: »Sollen wir jetzt nicht lieber gehen und unseren
eigenen 'zweiten Akt' in einer angenehmeren Umgebung aufführen?«
    Stephen war ihrem Vorschlag bereitwillig
gefolgt und mit ihr ins Bett gestiegen, aber seine Darbietung dort war genauso
unbefriedigend wie die, die er im Theater gesehen hatte. Kaum hatte er sich
seiner Kleider entledigt, merkte er bereits, daß ihm heute nicht nach dem
langen Vorspiel zumute war, das er normalerweise so sehr genoß; er wollte sich
einfach nur in ihr ergießen. Er wollte körperliche Erleichterung, nicht
sinnliches Vergnügen. Er holte sich das, was er brauchte, und gab ihr nichts
dafür.
    Helene entging das natürlich nicht,
und als er die Bettdecke wegschob, um aufzustehen, stützte sie sich auf einen
Ellenbogen und sah ihm beim Ankleiden zu. »Wo bist du heute abend nur mit
deinen Gedanken?«
    Schuldbewußt und frustriert beugte
Stephen sich nieder und drückte ihr einen entschuldigenden Kuß auf die gerunzelte
Stirn. Dann erwiderte er: »Ich muß immerzu an eine Situation denken, die so
kompliziert und ärgerlich ist, daß ich dich damit nicht beunruhigen will.« Das
war eine Ausrede, und beide wußten es, genauso wie sie beide wußten, daß eine
Geliebte für gewöhnlich keinen Anspruch auf Erklärungen und kein Recht zu
Vorwürfen hatte; allerdings handelte es sich bei Helene Devernay auch
keineswegs um eine gewöhnliche Geliebte. Sie wurde ebenso begehrt und bewundert
wie jede Societyschönheit. Sie suchte sich ihre Liebhaber nach eigenem Gusto
aus, und sie besaß eine reichliche Auswahl an gutsituierten Adligen, die nur
auf die Gelegenheit warteten, um ihr ihre Protektion anzubieten, so wie Stephen
es tat, und die im Gegenzug dafür das exklusive Recht auf ihr Bett und ihre
Gesellschaft erhalten wollen.
    Sie lächelte bei seiner Ausrede nur
und fuhr mit den Fingerspitzen den tiefen V-Ausschnitt seines offenen Hemdes
entlang. Dann fragte sie mit vorgetäuschter Unschuld:
    »Ich hörte von einer Näherin bei
Madame LaSalle, daß du dringend einige Kleider brauchtest, die mit
ungewöhnlicher Eile für einen Gast in dein Haus geliefert werden mußten. Was
ist das für eine ... Situation?« schloß sie taktvoll.
    Stephen richtete sich auf und
betrachtete sie mit einer Mischung aus Erheiterung, Irritation und Bewunderung
für ihre Auffassungsgabe. »Die Situation«, gab er offen zu, »ist 'ärgerlich'
und 'kompliziert'.«
    »Das habe ich mir beinahe gedacht«,
erwiderte sie mit einem wissenden Lächeln, aber Stephen hörte den Kummer in
ihrer Stimme heraus. Die Anwesenheit einer fremden Frau in seinem Haus machte
ihr offenbar Sorgen, und das verwirrte ihn. In seinen gesellschaftlichen
Kreisen wirkte sich üblicherweise noch nicht einmal das Vorhandensein einer
Ehefrau auf die Entscheidung eines Mannes aus, eine Geliebte zu haben. Bei den
oberen Zehntausend fanden Heiraten im allgemeinen zwischen zwei ähnlich
erzogenen Fremden statt, die auch genau das füreinander bleiben wollten, sobald
erst einmal der erforderliche Erbe zur Welt gekommen war. Von keinem der
beiden erwartete man eine Änderung des Lebensstils, um sich dem anderen
anzupassen, und Affären waren bei Frauen wie bei Männern an der Tagesordnung.
Diskretion, nicht Moral zählte bei einer Ehe in der High Society. Da sowohl
Helene als auch er das wußten, und da er außerdem gar nicht verheiratet war,
wunderte Stephen sich, daß sie an einen weiblichen Gast seines Hauses auch nur
einen Gedanken verschwendete. Er beugte sich vor, küßte sie auf den Mund und

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