Judith McNaught
nur edel.
Und im Gegenzug hatte Emily Lathrop
ihn getäuscht, benutzt und betrogen. Insofern nahm es kaum wunder, daß er ganz
sicher gehen wollte, nicht noch einmal einen Fehler zu machen, wenn er eine
Frau wählte.
Sherry rieb sich müßig mit den
Händen die Ellbogen und beobachtete eine Kutsche mit hohem Bock, die langsam
zwischen den Fußgängern die Straße entlangzuckelte. Sie mußte daran denken,
wie er sich an der Frau, die er offenbar einmal geliebt hatte, gerächt hatte.
Er war nicht eitel oder hochmütig
...
Er konnte aber auch nicht verzeihen.
Sie wandte sich vom Fenster ab und
ging hinüber zu ihrem Schreibtisch. Unaufmerksam blätterte sie die Seiten der
Morgenzeitung um und versuchte, sich von einer weiteren Wahrheit abzulenken:
Weder heute noch an irgendeinem anderen Tag hatte sie irgend etwas erfahren,
das ihr Aufschluß über seine Gefühle ihr gegenüber gab.
Er küßte sie gerne, aber irgendwo in
den Tiefen ihres Gedächtnisses spürte Sherry, daß dies nicht zwangsläufig
Liebe bedeutete. Er befand sich gern in ihrer Gesellschaft, manchmal
jedenfalls. Und er lachte gerne mit ihr, und das immer. Das konnte sie spüren.
Sie wünschte sich inbrünstig, ihr
Gedächtnis möge zurückkehren und ihr all die Antworten geben, die sie brauchte.
Unruhig bückte sie sich und hob
einen Fetzen Papier vom Teppich auf. Sie versuchte zu entscheiden, wie sie sich
von jetzt an ihm gegenüber verhalten sollte. Der Stolz erforderte, daß sie sich
von der niederschmetternden Ankündigung unten scheinbar unberührt zeigte. Ihr
Instinkt sagte ihr, sie solle ihm keine zweite Gelegenheit geben, sie zu
verletzen.
Sie würde sich so natürlich
verhalten wie möglich, beschloß sie, und gerade so reserviert, daß er auf
Distanz blieb.
Und sie würde einen Weg finden, um
nicht mehr daran zu denken, wie seine Hände über ihren Rücken und ihre Schultern
streichelten, wenn er sie küßte ... oder wie er die Finger in ihren Haaren
vergrub und seine Lippen so fest auf die ihren preßte, als könne er nicht genug
bekommen. Sie durfte nicht mehr daran denken, wie hungrig diese Küsse waren
oder wie es sich anfühlte, wenn sein Arm sie umschlang. Und unter gar keinen
Umständen sollte sie sich weiter mit dem Gedanken an sein Lächeln aufhalten ...
dieses träge, verwirrende Lächeln, das langsam über sein gebräuntes Gesicht
glitt und bei dem ihr Herz aussetzte ... oder an die Falten, die sich in den
Winkeln seiner dunkelblauen Augen bildeten, wenn er lächelte ...
Angewidert von sich selbst, weil sie
genau das tat, was sie sich doch verbieten wollte, setzte Sherry sich an ihren
Schreibtisch und versuchte, sich auf die Zeitung zu konzentrieren.
Er hatte Emily Lathrop geliebt.
Frustriert schloß Sherry die Augen,
als könne sie ihn damit aus dem Gedächtnis verbannen. Er hatte Emily Lathrop
unsäglich geliebt, und obwohl sie wußte, daß es albern war, schmerzte diese
Erkenntnis schrecklich, weil sie ihn liebte.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Sheridan kämpfte noch mit dieser Erkenntnis,
als sie gebeten wurde, zu Dr. Whitticomb und ihrer zukünftigen Anstandsdame zu
kommen.
Zwar sehnte sich Sherry nach mehr
Zeit, um über das, was sie heute erfahren hatte, nachdenken zu können, und die
Aussicht, unter dem eisigen Blick einer wachsamen Engländerin leben zu müssen,
deprimierte sie zutiefst, dennoch eilte sie gehorsam in den Salon, wo Dr.
Whitticomb neben einer ältlichen Lady auf dem Sofa saß. Statt einer grimmig
dreinschauenden englischen Amazone, wie Sherry sie sich vorgestellt hatte,
erwartete sie jedoch eine Anstandsdame, die mehr aussah wie eine winzige,
rundliche Porzellanpuppe mit ihren rosigen Wangen und silberweißen Haaren, die
ordentlich unter einer rüschenverzierten Haube hervorlugten.
Im Augenblick war sie gerade
eingenickt, und ihr Kinn ruhte auf ihrem Busen.
»Das ist Miss Charity Thornton«,
flüsterte Dr. Whitticomb Sherry zu, als sie neben ihm stand. »Die
unverheiratete Schwester des Duke of Stanhope.«
Sherry unterdrückte ein verblüfftes
Kichern über die Lächerlichkeit dieser winzigen, schlafenden Person, die auf
sie aufpassen sollte. Auch sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern und
erwiderte höflich: »Es ist sehr nett von ihr, daß sie sich um mich kümmern
will.«
»Oh, sie war begeistert, als ich sie
gefragt habe.«
»Ja«, witzelte Sherry hilflos, »man
sieht ihr an, daß sie ganz aufgeregt ist.«
Weiter links, außerhalb von Sherrys
Blickfeld, lehnte Stephen an einem
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