Julia Aerzte zum Verlieben Band 61
liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Doch das hatte sie in letzter Zeit schon viel zu oft getan. Sie hatte es satt, sich in Alessandros Nähe immer schwach und hilflos zu fühlen. Solange sich das Gespräch auf Julian beschränkte, sollte sie doch wohl imstande sein, das durchzuhalten. Danach konnte sie ja dann endlich schlafen gehen.
„Na schön.“ Sie drehte das Wasser ab. „Gib mir bitte ein Handtuch.“ Sobald es über der Duschwand erschien, nahm sie es und trocknete sich rasch ab. Zwar tat ihr dabei alles weh, aber glücklicherweise hatte das Frösteln aufgehört.
„Mein Nachthemd hängt am Haken.“
Auch das erschien gleich darauf, und Nat schlüpfte hinein. Ihr Slip lag noch in der Schublade, den konnte sie jedoch nachher anziehen.
Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, öffnete sie die Duschkabine und kam vorsichtig heraus. Ein Schwall kühler Luft traf ihre erhitzte Haut, sodass sich die Härchen an ihren Armen aufrichteten. Als sie Alessandros lässige Haltung sah, krampfte sich ihr der Magen zusammen. Die Krawatte hatte er längst abgelegt, und der oberste Hemdknopf stand offen. Die bis zu den Ellbogen aufgerollten Ärmel gaben den Blick frei auf seine kräftigen, mit schwarzen Härchen bedeckten Unterarme. Nat wurden die Knie noch weicher, als sie ohnehin schon waren.
Sie drängte sich an ihm vorbei. „Wenn du versuchen willst, dich zu rechtfertigen, verschwendest du nur deine Zeit.“
Alessandro drehte sich zu ihr um und blickte sie an. Mit ihren geröteten Wangen sah sie so frisch aus und duftete so wunderbar nach Seife. Nur allzu gern hätte er sie an sich gezogen und sein Gesicht in die Mulde zwischen Hals und Schulter gepresst. Entschlossen schob er die Hände in die Taschen. „Ich hab dir ja gesagt, es geht um Giuliano. Er merkt, dass irgendwas nicht stimmt, und macht sich Sorgen um dich.“
Nat war gerührt. „Ich dachte, wir könnten in den nächsten Tagen schon mal erwähnen, dass ich Ende der Woche ausziehe, damit es für ihn nicht ganz so überraschend kommt.“
Alessandro nickte mühsam. Wie Mary Poppins hatte sie in kurzer Zeit so viel bewirkt. Er vermisste sie jetzt schon. „Und es wäre schön, wenn du dich bis dahin nicht so verhalten würdest, als hätten wir Ebola.“
„Wie bitte?“
„Na ja, du warst in den letzten Tagen nicht so fröhlich und zugewandt wie sonst“, meinte er.
Geringschätzig verschränkte Nat die Arme. „Ach, das tut mir aber leid. Ich weiß gar nicht, wieso.“
„Ich wollte dich nie verletzen, Nathalie“, sagte Alessandro.
„Hast du aber“, fauchte sie. „Also wirst du es mir wohl nachsehen müssen, wenn ich das nicht einfach abschütteln und so tun kann, als wäre nichts gewesen.“
Ihre Bitterkeit war unüberhörbar, und Alessandro fühlte sich wie der letzte Schuft. Aber verdammt noch mal, er hatte ihr nie irgendwelche Versprechungen gemacht. So wie bei Camilla. Sie hatte genau gewusst, worauf sie sich bei der Heirat mit ihm einließ. Trotzdem war sie nie müde geworden, die Daumenschrauben immer fester anzuziehen. Die Schuld lastete wie ein schwerer Stein auf ihm, und manchmal hatte Alessandro das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
Er war es leid, ständig der Schuldige zu sein. „Ich habe dich nicht darum gebeten, dich in mich zu verlieben“, entgegnete er schroff.
„Nein, für dich ging es nur um Sex, stimmt’s?“, gab Nat zurück.
„Du weißt, dass ich mehr empfinde als das“, erklärte er gepresst. „Wie oft habe ich es dir in den vergangenen Wochen gezeigt?“
Sie lachte ironisch. „Sex?“ Ihre Stimme klang schrill, das Blut rauschte in ihren Adern, und ihr dröhnte der Kopf. „Sex ist keine Liebe, Alessandro. Egal, wie oft man es tut.“
„Zum Teufel“, fuhr er auf. „Ich meinte doch nur …“
„Hört auf, hört auf!“ Tränenüberströmt stürzte Julian sich zwischen sie, Flo in den Armen.
„Giuliano!“ Alessandro ging in die Hocke und nahm den verzweifelten Jungen in die Arme. Wie lange hatte er da wohl schon gestanden?
Nat war sprachlos. Wie schrecklich, dass der Kleine ihren Streit mitbekommen hatte. Liebevoll strich sie Julian über den Kopf. Dabei wurde ihr jedoch schwindelig.
Alessandro schaute zu ihr auf und sah, dass sie leicht taumelte. „Nathalie?“
Sie hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne, während ihr zugleich schwarz vor Augen wurde. Dann stolperte sie vorwärts und flüsterte: „Alessandro?“
Seine Reaktion war blitzschnell, und er fing sie auf, noch ehe er ganz aufrecht
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