Julia Arztroman Band 62
haben, dass er sie ansah, denn sie errötete und wandte sich rasch ab, um frisches Wasser in sein Glas zu gießen. Warum weicht sie ständig meinem Blick aus, wunderte sich Marco. Er wollte sie gerade danach fragen, doch da sprach ihn der junge Arzt wieder an.
„Ich würde Sie ja gern auf die Neurologie verlegen, um noch ein paar Tests zu machen, doch leider haben wir im Augenblick kein freies Bett.“ Der Arzt wandte sich an die Schwester. „Ich fürchte, Dr. Andretti wird heute Nacht bei euch bleiben müssen, Gina.“
„Das ist schon in Ordnung.“
Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch Marco merkte, welche Anstrengung es sie kostete. Während der Arzt ihm erklärte, dass er weiterhin unter Beobachtung stehen würde, hörte Marco nur mit einem Ohr hin. Wenn er ehrlich war, interessierte ihn diese Schwester sehr viel mehr als seine weitere Behandlung.
Marco wurde das Gefühl nicht los, dass er Schwester Gina kannte. Angestrengt versuchte er, den Nebel aus seinem Kopf zu vertreiben, doch der wollte sich einfach nicht auflösen. Bildete er sich alles nur ein? Erfand sein Gehirn vielleicht eigenmächtig neue Erinnerungen, weil die alten verschüttet waren?
Als Arzt wusste er, dass so etwas möglich war. Aber er wehrte sich dagegen. Seine Einsamkeit war nicht so unerträglich, dass er sich deshalb an eine völlig fremde Person klammern müsste.
Ja, richtig, er war einsam. Daran erinnerte er sich wieder. Und wie früher schon verscheuchte er auch jetzt diesen Gedanken. Er hatte sich bewusst für diese Einsamkeit entschieden. Einst hatte er alles besessen, was ein Mann sich nur wünschen konnte … und dann war ihm alles genommen worden. Diese Trauer und diesen unerträglichen Schmerz könnte er nicht noch einmal ertragen.
Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er Gina abermals beobachtete. Er konnte sich zwar nicht daran erinnern, wo sie sich begegnet waren, aber er wusste – er wusste es einfach –, dass sie sich kannten! In diesem Augenblick wurde ihm klar, wie wichtig es war, dass er sein Gedächtnis so schnell wie möglich wiedererlangte. Er musste herausfinden, warum diese Frau vorgab, ihn nicht zu kennen.
Der Abend schritt voran, begleitet von den üblichen kleineren und größeren Dramen. Gina arbeitete seit zwei Jahren auf der Akutambulanz und war mit alldem vertraut, doch dieser Abend erschien ihr anders als alle anderen. Sie war sich Marcos Anwesenheit so bewusst, dass ihr ihre Sinne ungewöhnlich geschärft vorkamen. Der Geräuschpegel war tatsächlich extrem hoch, die Zahl der Besucher pro Bett musste reduziert werden, die Wartezeiten, bis die Patienten von einem Spezialisten untersucht wurden, waren tatsächlich zu lang. So konnte es nicht weitergehen!
Kurz entschlossen bat sie Julie, die überzähligen Besucher hinauszukomplimentieren. Zwei pro Patient waren gestattet, und daran wollte Gina sich von jetzt an halten. Dann rief sie noch einmal auf allen Stationen an, die versprochen hatten, einen Facharzt zu schicken. Sie hatte gerade den Hörer aufgelegt, als sie einen Monitor piepsen hörte und Rosie ins Büro gelaufen kam.
„Der Mann in Bett sieben kriegt keine Luft!“, rief Rosie aufgeregt.
„Hast du ihm Sauerstoff gegeben?“, fragte Gina und verkniff sich einen Tadel, als die Lernschwester den Kopf schüttelte. Sie würde mit ihr später noch einmal die Notfallmaßnahmen durchgehen, doch zuerst musste sie sich um den Patienten kümmern. Sie rannte zu dem entsprechenden Bett, nahm die Sauerstoffmaske aus der Halterung und legte sie dem Patienten an. „Versuchen Sie ganz ruhig zu atmen, Mr Jackson. Ja, genau so. Ganz ruhig und gleichmäßig. Gut. Das machen Sie prima.“
Gina warf einen Blick auf den Monitor. Die Pulsfrequenz war viel zu hoch, der Blutdruck dagegen zu niedrig. Philip Jackson war vierundvierzig Jahre alt und gegen Mittag wegen akuter Atemnot eingeliefert worden. Da die Symptome im Laufe des Nachmittags abgeklungen waren, war Miles Humphreys zu dem Schluss gekommen, dass der Patient nur an einer Panikattacke gelitten habe. Ihren Vorschlag, Mr Jackson über Nacht zur Beobachtung dazubehalten, hatte Miles als übertrieben abgeschmettert und den Mann entlassen. Mr Jackson hatte eigentlich nur darauf gewartet, dass seine Frau ihn abholte, als die Atemnot jetzt ganz offensichtlich wieder eingesetzt hatte.
Gina unterdrückte einen Seufzer, als sie sich an Rosie wandte. Miles würde nicht erfreut sein, dass seine Diagnose falsch war. „Sei so nett und lass bitte
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