Julia Arztroman Band 62
Vorstellungsgespräch für den Posten des Chefarztes an diesem Krankenhaus angesetzt gewesen. Eigentlich müsste er dort in der Verwaltung anrufen und erklären, warum er den Termin nicht wahrnehmen konnte, doch das erschien ihm im Augenblick nicht so wichtig. Viel wichtiger war die Frage, was Gina ihm bedeutet hatte. Und was es mit dieser offenbar schwierigen Trennung auf sich hatte, zum Teufel!
Leise fluchend warf Marco die Bettdecke zurück. Seine Kopfschmerzen waren erträglicher geworden, und abgesehen von der Schwellung hinter seinem rechten Ohr hatte er keine weiteren Blessuren davongetragen. Blieben nur noch diese verdammten Gedächtnislücken. Wenn er sie doch nur schließen könnte, dann wäre er soweit wiederhergestellt, um von hier zu verschwinden. Er hatte nämlich die Nase voll vom Patientendasein.
Entschlossen machte er sich auf den Weg zum Stationszimmer. Er wusste, dass die beiden anderen Schwestern gerade Pause machten – er hatte sie weggehen sehen. Somit war der Zeitpunkt günstig, ein paar Worte allein mit Gina zu wechseln. Warum hatte sie so getan, als würde sie ihn nicht kennen? Offenbar war in der Vergangenheit irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen … Er würde keine Ruhe geben, bis er es herausgefunden hätte.
Dieser Gedanke spornte ihn derart an, dass er nicht anklopfte, sondern einfach ins Stationszimmer hineinplatzte.
„Das war aber eine kurze Pause“, sagte Gina und wurde kreidebleich, als sie sich umdrehte und erkannte, wen sie vor sich hatte.
Dass er sich keinen Reim darauf machen konnte, warum sie so auf ihn reagierte, ärgerte Marco. Deshalb war sein Ton auch schärfer als beabsichtigt, als er sagte: „Ich muss wissen, was Sie damit gemeint haben, als sie sagten, wie hätten uns nicht als allerbeste Freunde getrennt.“
„Wie ich ebenfalls sagte, möchte ich hier und jetzt nicht darüber sprechen.“ Gina stand abrupt auf. „Wenn Sie jetzt bitte wieder in Ihr Bett gehen, ich habe zu arbeiten.“
Sie machte ein paar Schritte auf Marco zu, als wollte sie ihn aus dem Büro drängen, doch er richtete sich zu seiner vollen Größe von einem Meter fünfundachtzig auf und starrte überlegen auf sie herunter. „Ich gehe nirgendwohin, ehe Sie mir nicht erklärt haben, was los ist. Ihren Worten kann ich nur entnehmen, dass wir uns kennen, und ich möchte jetzt wissen, warum Sie mir das verheimlichen wollten.“
Als Marco sah, wie angestrengt Gina um Fassung rang, während sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte, wunderte er sich nur noch mehr über ihr Verhalten. Selbst wenn sie eine Affäre gehabt hatten, lebten sie schließlich im einundzwanzigsten Jahrhundert. Warum also dieses Versteckspiel? Wovor hatte sie Angst?
„Ich hielt es für das Beste, nicht darüber zu sprechen.“
„Warum? Ich verstehe nicht.“
„Weil … Nun, man sagt, es sei besser, wenn die Patienten sich selbst erinnern.“ Sie holte kurz Luft und fuhr fort: „Hätte ich Ihnen alles gesagt, was ich über Sie weiß, könnten Sie nie sicher sein, ob ich Ihnen diese Erinnerung nicht eingeredet habe, richtig?“
Das klang vernünftig. So vernünftig, dass Marco stutzte. Es erklärte zwar, warum sie vorgegeben hatte, ihn nicht zu kennen, dennoch hatte er das unbestimmte Gefühl, dass mehr dahintersteckte. Sehr viel mehr.
„Verstehe. Sie haben also nur geschwiegen, um mir zu helfen.“
„Ja … genau.“ Sie errötete ein wenig. „Ich bin froh, dass Sie das begreifen, Dr. Andretti.“
„Andererseits frage ich mich, ob Ihr Schweigen nicht auch zu Ihrem Besten war?“
Als Gina daraufhin zusammenzuckte, wusste Marco, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Doch seltsamerweise verschaffte ihm das keine Befriedigung. Im Gegenteil, die Vorstellung, dass in der Vergangenheit irgendetwas zwischen ihnen passiert sein musste, das ihr heute noch Angst machte, ging ihm sehr nahe. Doch um herauszufinden, was das war, musste er Gina aus der Reserve locken.
„Hören Sie, Gina, ich möchte keine alten Wunden aufreißen, aber ich muss meine Gedächtnislücken schließen. Es ist schrecklich, nicht zu wissen, was im eigenen Leben passiert ist. An einiges erinnere ich mich inzwischen wieder, doch es gibt noch eine Menge offene Fragen.“
„Welche denn?“, kam es leise von Gina.
„Das weiß ich ja eben nicht!“ Marco spürte, wie ihn Ungeduld und Verzweiflung gleichermaßen überkamen. „Wenn man so viel von seinem Leben vergessen hat, wird alles zu einem großen Fragezeichen. Wie zum
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