Julia Extra 0357
eingeschränkt lesen und schreiben können und deshalb nicht in der Lage sind, einen vernünftigen Beruf auszuüben. Viele von ihnen leben in Armut, manche sind sogar obdachlos.“
Sie beugte sich leicht vor und setzte sich leidenschaftlich und mit großer Überzeugungskraft für ihr Anliegen ein. „Sie sind keineswegs dumm. Einige leiden unter Legasthenie, die im Kindesalter nicht diagnostiziert wurde, und sind so durch das Bildungsnetz gefallen. Als Erwachsene sitzen sie immer noch zwischen den Stühlen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, das zu ändern.“
Zufrieden mit ihrem Bericht lehnte sie sich zurück und wartete auf Thomas’ Reaktion.
„Dafür brauchen Sie Geld“, stellte er fest.
„Ja. Die meisten Lehrkräfte arbeiten zwar ehrenamtlich, aber wir müssen Unterrichtsmaterialien kaufen. Außerdem finanzieren wir bedürftigen Schülern den Transport zu unserer Einrichtung und sorgen dafür, dass ihre Kinder während der Unterrichtsstunden betreut werden. Das alles kostet natürlich Geld.“
Thomas war fasziniert. Nicht nur von Elizabeth Morris, sondern auch von ihrem Anliegen. „Seit wann besteht der Verein denn schon?“, erkundigte er sich interessiert.
„Seit über fünf Jahren.“
„Und wie lange sind Sie dabei?“
„Von Anfang an. Ich habe den Verein gegründet, Mr Waverly.“
„Nein! Wie alt sind Sie denn?“, fragte er verblüfft und entschuldigte sich sofort für seinen Fauxpas. „Tut mir leid. Aber Sie …“
„Ich wirke so jung. Ich weiß.“ Mit übertrieben missmutigem Gesicht strich sie sich über das Jackett. „Trotz meines gediegenen Outfits.“
Ihr Sinn für Humor, der ihre eigenen Schwächen offenbarte, verunsicherte Thomas. Er wusste nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte, und entschuldigte sich schnell erneut.
Lächelnd akzeptierte sie seine Entschuldigung und fuhr fort. „Die Idee, etwas gegen Analphabetismus zu tun, ist mir während meines Lehramtsstudiums gekommen“, erklärte Elizabeth.
„Haben Sie auch an der Universität Michigan studiert?“ Dort hatte er sein Studium abgeschlossen. Bedauerlicherweise schüttelte sie den Kopf.
„Nein. Ich hoffe, Ihr Interesse an meinem Verein wird jetzt nicht dadurch geschmälert, dass ich die staatliche Universität besucht habe.“
Die MSU? Die Rivalität zwischen den beiden renommierten Uni versitäten war legendär. Thomas zog eine Schulter hoch. „Gute Uni.“
„Richtige Antwort.“ Sie lachte amüsiert. „Ihre Universität ist aber auch gut.“
Thomas stimmte in ihr ansteckendes Lachen ein.
„Ja.“ Sie wurde wieder ernst. „Nach dem Examen habe ich mich gegen den Schulbetrieb entschieden und stattdessen meinen Verein gegründet“, erzählte sie.
Ein mutiger Entschluss, fand Thomas. „Warum haben Sie nicht den einfachen Weg auf der Karriereleiter gewählt?“
Elizabeth befeuchtete ihre Lippen. „Weil ich erkannt hatte, dass es einen Bedarf für die Alphabetisierung Erwachsener in Michigan gibt.“
Da steckt mehr dahinter, ahnte Thomas, der sie forschend ansah. Wenn er sich nicht sehr täuschte, war gerade ein trauriger Schatten über ihr niedliches Gesicht gehuscht.
„Wir erhalten staatliche Fördermittel. Allerdings sind die Gelder momentan überall knapp. Obwohl jeder Staat für seinen wirtschaftlichen Erfolg auf eine Bevölkerung angewiesen ist, die lesen und schreiben kann, mussten wir in den vergangenen beiden Jahren erhebliche Kürzungen hinnehmen.“
„Deshalb bemühen Sie sich jetzt um Spenden aus der Geschäftswelt“, schloss Thomas haarscharf.
„Genau genommen möchte ich eine Stiftung ins Leben rufen, um zu gewährleisten, dass wir auch in Zeiten knapper Gelder weiterarbeiten können. Es fällt mir schwer, um Geld zu bitten, auch wenn es für einen sehr guten Zweck bestimmt ist. Mir wäre es lieber, nicht jedes Jahr wieder auf Spendenjagd gehen zu müssen“, fügte sie lächelnd hinzu.
„Eine Stiftung wäre durchaus sinnvoll.“ Ihre Entschlossenheit beeindruckte Thomas sehr. Gleich nach dem Studium einen gemeinnützigen Verein zu gründen und fünf Jahre später Spendengelder zu sammeln, um den Verein am Leben zu erhalten – so viel Einsatz rang ihm höchsten Respekt ab.
Die Frauen, mit denen er sonst zu tun hatte, waren alles andere als philanthropisch. Viele arbeiteten nicht einmal, weil sie geerbt hatten oder weil Daddy ihnen ein Konto zur freien Verfügung eingerichtet hatte. Auch körperlich waren sie das genaue Gegenteil von Elizabeth Morris: mindestens einen Kopf
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