Julia Extra Band 0193
besser, darüber zu reden, wenn wir uns gegenüberstehen? Oder ziehen Sie es vor, dieses Vorstellungsgespräch über die Sprechanlage zu führen?”
Ein lautes Summen ertönte, als die großen schmiedeeisernen Torflügel aufschwangen. Haley stieg in ihren Wagen. Sie war kaum durch das Tor gefahren, als sich die Flügel hinter ihr auch schon wieder schlossen. Ihr Verstand lieferte ihr die Erklärung, dass sie höchstwahrscheinlich eine Art Sensor überfahren hatte, der den Schließmechanismus auslöste, aber ihr Gefühl gaukelte ihr vor, hinter ihr wären Gefängnistore ins Schloss gefallen.
Sie fuhr die Auffahrt entlang bis zu einem beeindruckenden großen Gebäude im Kolonialstil, hielt an und stieg aus. Im gleichen Moment bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung.
Der Hund, zu dem das Baskerville-Geheul offensichtlich gehört hatte, kam mit irrsinnigem Tempo um eine Hausecke gerannt, der Kies der Auffahrt spritzte unter seinen riesigen Pfoten auf. Haley hatte gerade noch Zeit, sich fluchtartig in ihr Auto zurückzuziehen, als dieser Hund von der Größe eines Kalbs auch schon die Vorderpfoten auf die geschlossene Wagentür legte und laut bellend die riesigen Reißzähne bleckte.
“Aus, Dougal! Bei Fuß!”
Der Befehl ertönte mit der Lautstärke und dem Tonfall eines Feldwebels, deshalb überraschte es Haley auch nicht, dass das große Tier sofort gehorchte und sich wie der Blitz von ihrem Wagenfenster zurückzog. Wahrscheinlich hätte sie ebenso schnell gehorcht, hätte der Befehl ihr gegolten. Jetzt erst merkte sie, dass sie zitterte, und sie fragte sich, ob das nun an dem plötzlichen Auftauchen des Hundes lag – oder an dem seines Herrn. Erleichtert sah Haley, wie der Hund sich ganz zahm neben seinem Herrn und Meister auf die Hinterpfoten setzte.
Der Mann, der jetzt am Ende der breiten Freitreppe stand, war Sam Winton selbst. Haley erkannte ihn, sie hatte Fotos von ihm auf seinen Büchern gesehen. Allerdings hatten diese Fotos seine Erscheinung in natura weder einfangen können noch wurden sie ihm gerecht.
Eigentlich hatte sie sich bisher noch keine Gedanken darüber gemacht, wie man sich einen Kinderbuchautor vorzustellen hatte, aber sie wusste mit Sicherheit, dass sie einen solch vitalen Mann nicht erwartet hatte. Ihn schien eine Aura von purer Energie zu umgeben, von Macht und Kraft. Seine Haut war sonnengebräunt, und sein Haar genauso schwarz wie Joels, nur eben dichter. Im Nacken kräuselten sich widerspenstige Locken, wie bei den mittelalterlichen Rittern, die man aus den Filmen kannte. Allerdings trug dieser Ritter hier keine eiserne Rüstung, sondern ein cremefarbenes Polo-Shirt und schwarze, lässige Hosen.
Ihre Schwester hatte ihm den Spitznamen “das Biest” verpasst, doch Haley musste zugeben, dass nichts an ihm “biestig” oder gar Angst einflößend wirkte. Er war größer, als sie erwartet hatte, mindestens einen halben Kopf größer als sie. Und er hatte eine großartige Figur – nicht die übertriebenen Muskelpakete eines Bodybuilders, aber die Statur eines Menschen, der auf sich achtete und sich nicht gehen ließ.
Das Einschüchterndste an ihm war im Moment die tiefe Falte, die auf seiner Stirn stand und bis zu den blauesten Augen, die Haley je gesehen hatte, hinunterreichte. Und ihr zweifelnder Blick auf den Hund vertiefte diese Falte nur noch.
“Sie können aussteigen. Er wird Ihnen nichts tun.”
Vorsichtig öffnete sie die Tür, da war Sam Winton auch schon bei ihr und ergriff ihre Hand. Ein Stromstoß durchzuckte sie bei der Berührung. Pure Energie, sie hatte es ja schon vermutet. Alarmiert versuchte sie ihre Hand zurückzuziehen. “Was machen Sie denn da …?”
Er hielt Dougal ihre Hand vor die Nase, damit der Hund sie beschnüffeln konnte. Misstrauisch fragte sie sich, ob Dougal nun mit einem Biss ihre Hand vom Gelenk abtrennen würde. Fähig war er dazu bestimmt. Doch dann hörte sie Sam Winton sagen: “Freund, Dougal, Freund.”
Der Hund wedelte zuerst nur zögernd mit dem Schwanz, doch dann stellte er die Rute in die Höhe, und das begeisterte Wedeln schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Als er dann Haleys Hand ausgiebig mit seiner rauen Zunge leckte, konnte Haley sich endlich entspannen. Mit der anderen Hand kraulte sie kräftig das drahtige Fell hinter seinen Ohren, was Dougal ausgiebig genoss. “Guter Hund, braver Hund”, lächelte sie und wunderte sich gleichzeitig, wie sie vor diesem übermütigen struppigen Kerl überhaupt Angst hatte
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