Julia Extra Band 0325
nicht erkennen. Aber er konnte ihr Stirnrunzeln fast spüren.
„Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, als sie elf war. Und die nächsten paar Jahre sind sie von einem Familiengericht zum anderen gezogen, um sich über das Sorgerecht zu streiten. Stephanie hatte das Gefühl, nur eine Spielfigur zu sein. Sie hat immer nur vom Tag ihrer Flucht geredet.“
Er hätte merken sollen, dass er nicht viel mehr als ein Fluchtweg für sie war. Aber mit achtzehn hatte er große Pläne gehabt. Nicht, weil er Probleme zu Hause gehabt hätte, sondern weil er eben achtzehn war. Er hatte geglaubt, alles zu wissen und für alles bereit zu sein.
„Am Abend unserer Abschlussfeier habe ich ihr einen Hochzeitsantrag gemacht. Das kam mir wie der perfekte Zeitpunkt vor. Wir waren ganz berauscht von unserem Erfolg. Nichts konnte uns aufhalten. Zumindest habe ich das geglaubt.“
„Was ist passiert?“
„Ich habe meinen Eltern von unseren Plänen erzählt, und mein Dad ist ausgeflippt. Ich habe ihn noch nie so wütend erlebt. Und dann … dann hatte mein Dad einen Herzanfall. Nur ein paar Wochen nach unserem Streit. Die Ärzte meinten, dass vielleicht Stress ein Auslöser war …“
„Oh, Javier.“ Emily nahm seine Hände. Mit der Berührung sagte sie alles, was sie mit Worten nicht ausdrücken konnte.
„Ich habe gedacht, mein Schulabschluss und die Verlobung bedeuten, dass ich erwachsen bin. Ich habe sehr schnell herausgefunden, was Erwachsensein wirklich bedeutet. Meine Mutter ist vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche bei Dad geblieben. Mir hat sie die Verantwortung für das Restaurant übertragen. Ich hatte zwar seit der siebten Klasse dort gearbeitet, aber das Restaurant zu führen – das war ganz was anderes.“
Über Nacht hatte er die ganze Verantwortung aufgehalst bekommen. Und seitdem – jetzt konnte er das zugeben – war er davor in mancher Hinsicht auf der Flucht.
„Ich habe Stephanie gesagt, dass ich nicht weg kann, solange mein Vater im Krankenhaus ist. Ich wollte immer noch heiraten, nur nicht so bald. Ich habe erwartet, dass sie das verstehen würde.“
„Was ist passiert?“
„Mein Dad hat das Krankenhaus nie wieder verlassen.“ Er schluckte schwer. „Danach konnte ich natürlich nicht mehr wegziehen. Aber wir hätten immer noch heiraten können. Ich habe versucht, so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Aber meine Mutter war nicht in der Verfassung, das Restaurant zu leiten. Manchmal hatte ich das Gefühl, im Lokal zu leben. Also kann ich Stephanie wohl keine Vorwürfe machen, wenn sie sich alleingelassen gefühlt hat. Und dann habe ich einen Zettel unter dem Scheibenwischer gefunden.“
Emily drückte seine Hand. „Das tut mir so leid.“
Er wartete darauf, dass die dunklen Erinnerungen wie ein Sturm über ihn hereinbrechen würden. Aber stattdessen verspürte er nur ein schwaches Gefühl der Erleichterung.
„Ich konnte ihr nicht folgen. Konnte nicht einfach weg, nachdem ich meiner Mutter versprochen hatte, mich um das Restaurant zu kümmern. Und dann ist das Feuer ausgebrochen.“
Sogar noch nach zehn Jahren zerfleischten ihn die Schuldgefühle, als er daran dachte. Als Manager war es sein Job, jeden Abend einen letzten Kontrollgang zu machen. Bis zum heutigen Tag hätte er schwören können, dass er jeden Ofen überprüft hatte, bevor er an jenem Abend das Restaurant verlassen hatte. Aber Erschöpfung und Sorgen hatten ihren Tribut gefordert.
„Es war meine Schuld.“
„Nein“, protestierte Emily.
„Ich hätte die Küche noch einmal kontrollieren sollen.“
„Es war ein Unfall, Javier. Du hast gesagt, dass deine Mutter nicht in der Lage war, das Restaurant zu führen. Aber wie ist es dir gegangen? Hat danach mal jemand gefragt?“
Der Tod seines Vaters und Stephanies Verrat hatten ihn tief getroffen. Dazu kam noch die Verantwortung für das Restaurant.
„Es war nicht deine Schuld“, wiederholte Emily. „Du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Loslassen und weiterleben.“ Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Emily kam ihm zuvor. „Warum hast du nicht mehr darum gekämpft, das Restaurant zu renovieren?“
„Weil es so ist, wie du gesagt hast. Meine Mutter will, dass alles so bleibt wie zu Lebzeiten meines Vaters.“
„Ist das wirklich der Grund? Oder befürchtest du, dass sie kein Vertrauen in deine Ideen hat? Weil du selbst nicht recht an diese Ideen glaubst?“
Der Gedanke, dass er seinem Versagen erlaubt hatte, sein Leben zu
Weitere Kostenlose Bücher