Julia Extra Band 0345
etwas tun wollte, was mir Spaß gemacht hat, wie damals die Kunstschule zu besuchen, hast du es verhindert. Ich musste die Verantwortungsbewusste, Zuverlässige spielen, obwohl das eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre.“
„Ich wollte dich doch nur beschützen!“
„Wovor denn? Vor einer Überdosis Pastellkreide? Ich hätte so gerne etwas Neues ausprobiert … mich entfaltet.“
„Ich wollte dich davor beschützen …“, Mary umklammerte den Cognacschwenker, „… so zu werden wie ich.“
Sprachlos sank Daphne auf den Stuhl. Darauf wäre sie nie im Leben gekommen.
„Das ist dir allerdings gelungen.“ Plötzlich fügten sich so viele Puzzleteile ihrer Vergangenheit zusammen. „Ich habe ein Leben auf Sparflamme geführt … bin nie ein Risiko eingegangen.“ Bis ich Carter Matthews geheiratet habe.
„Unsinn! Du bist selbstständig, besitzt ein Unternehmen. Wenn das nicht ein risikoreiches Leben ist! Jeder einzelne Tag bringt neue Ungewissheit … wie kannst du da behaupten, du würdest kein Risiko eingehen?“
„Das betrifft leider nur meine Arbeit – nicht mein Privatleben.“
„Soll ich dir sagen, warum ich die Ehemänner gewechselt habe wie andere die Hemden? Warum ich es nie lange an einem Ort ausgehalten habe?“ Mary umklammerte den Cognacschwenker, als wäre er das Einzige, was ihr Halt geben konnte. „Als dein Vater starb, wusste ich, keiner würde sich jemals mit ihm messen können. Gleichzeitig haben mich die Erinnerungen fast umgebracht. Ich musste einfach weg! Ich war fast verrückt vor Schmerz – und wusste, das muss ich dir ersparen. Das Beste – das Einzige – was ich tun konnte – ich musste dir meine Gegenwart ersparen.“
„Nein, Mutter. Das Beste wäre gewesen, wenn du für mich da gewesen wärst. Ich hatte doch nur dich!“ Daphne schluckte schwer und wünschte, sie hätte auch einen Cognacschwenker vor sich. Sie holte tief Luft – und stellte sich den Dämonen der Vergangenheit. Sie war kein Kind mehr – das Leben hatte sie gelehrt, dass es nicht nur schwarz oder weiß gab, sondern alles eine Frage der Perspektive war. „Ich brauchte dich. Du musstest gar nicht perfekt sein – du hättest einfach nur bei mir sein müssen!“
Mary hob den Blick. In ihren Augen schimmerten Tränen. „Du wolltest mich? Bei dir?“
„Aber natürlich! Ich wusste nur nicht, wie ich es dir sagen sollte.“
Mary stand sehr aufrecht da und spielte mit ihrem Glas. Daphne befürchtete, ihre Mutter würde jede Sekunde flüchten – so wie sie es ihr Leben lang getan hatte, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gegeben hatte. „Willst du mich immer noch bei dir haben?“
Schweigend sah Daphne ihre Mutter an. Diese Frau, die sie zur Welt gebracht und dann im Stich gelassen hatte.
Trotzdem stellte sich die Frage, ob Daphne nicht auch eine gewisse Schuld an der Situation trug. Warum hatte sie nicht mit ihrer Mutter darüber geredet, als sie größer geworden war? Stattdessen hatte sie sich hinter Stundenplänen und Schulaufgaben verschanzt. Um die Leere nicht aushalten zu müssen, die ihr Vater hinterlassen hatte – um sich dem Chaos nicht stellen zu müssen, in das sein Tod sie und ihre Mutter gestürzt hatte.
Warum hatten so viele Jahre vergehen müssen, bis es zu diesem wichtigen Gespräch gekommen war?
Sie dachte an Carter, der schließlich ins kalte Wasser gesprungen und das Risiko eingegangen war zu scheitern. Vielleicht sollte ich mir einmal meine eigenen Ratschläge, die ich so großzügig verteile, zu Herzen nehmen!
„Ja. Das will ich.“ Daphne griff nach einer Hand ihrer Mutter und gelobte sich, einen neuen Anfang zu machen – mit Mary. „Ja“, wiederholte sie. „Wir schlagen einfach eine neue Seite in unserem Leben auf.“ Das riet sie doch immer ihren Klienten. Auch ihr Unternehmen führte sie nach diesem Motto. Wenn etwas nicht klappte, konnte man daraus lernen und es das nächste Mal besser machen. „Aber jetzt solltest du zu Brad zurückkehren und dich um ihn kümmern. Im Sommer komme ich euch in London besuchen.“
„Wirklich? Versprichst du das?“ Mary klang wie ein kleines Kind. Seltsam, wie sich die Rollen verkehren konnten. Jetzt war Daphne diejenige, die Trost und Sicherheit spendete.
„Großes Indianerehrenwort.“
Mary umklammerte die Hand ihrer Tochter wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. „Okay, ich werde es versuchen. Auch wenn es mir eine Heidenangst einjagt, an einem Ort bleiben zu müssen.“
„Und ich bekomme Panik, wenn sich
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