Julia Extra Band 0345
nicht.“
Warum? Warum? Diese Frage hatte Carter sein ganzes Leben lang beschäftigt, doch nun war sie bedeutungslos geworden. Seine Mutter war diejenige, die sich fragen sollte, wie es ihr möglich gewesen war, ihre Kinder einfach zu verlassen. Er war jetzt siebenunddreißig. Die Zeit, in der es wichtig gewesen wäre, die tröstende Umarmung seiner Mutter zu spüren, war längst vergangen. Ihm blieb sein Vater. Ihm blieb Cade.
Und jetzt … Daphne.
„Nachdem deine Mutter gegangen war“, begann Jonathon, während er auf seine Schuhspitzen starrte, „fühlte ich mich völlig überfordert. Eine Anwaltskanzlei, ein Schreibtisch, auf dem sich die Akten türmten … und zwei kleine Kinder.“
„Da hast du beschlossen, alles perfekt zu machen, alles zu kontrollieren“, beendete Carter den Gedankengang. Er sah sich in seinem penibel aufgeräumten Büro um und erkannte, dass er seinem Vater doch in manchen Dingen ähnelte.
„Nur so konnte ich alles bewältigen. Ich durfte nicht erneut scheitern.“ Jonathon sah Carter in die Augen. „Ich wollte euch nicht auch noch verlieren.“
„Dad, damals waren wir schon fünf Jahre alt. Es wäre sicher möglich gewesen, allein zum Laden an der Ecke zu gehen.“
Jonathon lächelte bei der Erinnerung, und die Situation entspannte sich etwas, glücklicherweise … die beiden Männer waren es nicht gewohnt, über das zu sprechen, was sie bewegte. „Ich weiß. Aber ich konnte es mir einfach nicht erlauben, einen Fehler zu begehen. Psychologen würden wahrscheinlich sagen, es war meine Überlebensstrategie, die absolute Kontrolle über alles zu behalten. Und wahrscheinlich habe ich von euch das Gleiche erwartet.“
„Ich nehme an, ich habe es dir nicht leicht gemacht.“ Carter ließ all die zerrissenen Hosen und zerschrammten Knie vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Und später im Teenageralter hatten die Probleme erst richtig angefangen. Ganz zu schweigen von dem, was er sich als Erwachsener geleistet hatte. Die Klatschspalten waren schließlich nicht zufällig mit Berichten über ihn voll.
„Stimmt. Du warst wirklich eine Herausforderung: Immer darauf bedacht, deinen eigenen Kopf durchzusetzen.“
„Was ich ja auch geschafft habe.“ Carter berichtete seinem Vater von dem Wochenende. „Daphne hat wirklich Wunder gewirkt. Die Jungs sind wie ausgewechselt. Sie haben fantastische Ideen entwickelt.“
Und jetzt geschah etwas, das Carter nicht erwartet hätte: Sein Vater lächelte ihn an.
„Nein Carter, du bist der Vater des Erfolgs! Du hast Führungsqualitäten bewiesen. Ich bin stolz auf dich, mein Junge. Verdammt stolz.“
Jetzt war die Gelegenheit gekommen, mit seinem Vater abzurechnen, ihm vorzuhalten, wie sehr er unter ihm gelitten hatte. Aber Carter sagte nur leise: „Danke, Vater.“
Jonathon räusperte sich. „Das musste einfach gesagt werden.“
„He! Sie können da nicht so einfach reingehen“, hörte man plötzlich Kellys panische Stimme durch die Bürotür. „Er ist in einer Besprechung!“
„Zum Teufel, ich kann hingehen, wo ich will! Außerdem ist das da mein Büro!“
Carter und Jonathon sprangen auf und sahen sich fassungslos an. Die Tür wurde aufgerissen, und herein trat – ein Geist.
„Hallo, hallo! Es geht doch nichts über einen kleinen Überraschungsbesuch am Morgen!“
„Onkel Harry!“ Carter blieb der Mund offen stehen. Ich muss halluzinieren, dachte er.
„Wie er leibt und lebt“, bestätigte dieser und schlug sich auf die Brust. Gesund und munter stand er vor ihnen – unverändert, mit seinem vollen weißen Haarschopf, den dichten Nikolaus-Augenbrauen und den regenbogenfarbenen Hosenträgern, die sein Markenzeichen waren. „Und? Wie gefällt euch mein Streich? Ich will ja nicht unbescheiden klingen, aber ich muss sagen, ich habe mich selbst übertroffen. Es geht doch nichts über einen kleinen Spaß!“
„Spaß!“, rief Jonathon fassungslos. „Du bist offiziell für tot erklärt worden!“
Onkel Harry amüsierte sich königlich. „Man hätte mich für den Till-Eulenspiegel-Preis nominieren, zum größten Schelm des Jahrhunderts erklären sollen.“
„Du hast das alles geplant!?“ Carter glaubte, nicht richtig zu hören.
„Haargenau und haarklein.“ Stolz schwang in Onkel Harrys Stimme mit. „Ich wollte mal sehen, wie unser kleiner Carter sich macht, wenn er in meinen Schuhen steckt.“ Demonstrativ betrachtete er seine Füße. „Ups. Ich habe Größe 45.“
„Das alles hast du veranstaltet, weil
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