Julia Extra Band 0350
New York – abgereist war, hatte Sergej etwas getan, was er vorher nicht einmal in Erwägung gezogen hatte. Er hatte einen Privatermittler beauftragt, Nachforschungen über Alyona anzustellen und sie wenn möglich ausfindig zu machen. Über zwanzig Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen, seit sie vier Jahre alt gewesen war und er vierzehn.
Die Ermittlungen erwiesen sich als recht schwierig, weil die Aufzeichnungen des Waisenhauses sehr lückenhaft waren. Zweimal hatte Sergej den Auftrag storniert, weil er sich nicht sicher war, ob er es wirklich wollte. Dann hatte er Hannahs offenes Lächeln vor sich gesehen und den Ermittler erneut beauftragt. An einen guten Menschen.
Doch es irritierte ihn schon sehr, dass er sie nicht vergessen konnte. Hadley Springs war nur vier Stunden entfernt. Es würde ihn nur wenige Minuten kosten, um im Internet herauszufinden, ob sie noch immer da wohnte. Falls ja, könnte er sich einen Wagen mieten und schon am Nachmittag dort sein.
Auch wenn er im ersten Moment davor zurückschreckte, kam ihm der Gedanke plötzlich völlig naheliegend und logisch vor. Er würde sie wiedersehen, seine Neugier befriedigen … und mehr. Immerhin hatten sie sich beide sehr zueinander hingezogen gefühlt. Wenn er diesem Gefühl Rechnung trug, konnte er sie sich vielleicht endlich aus dem Kopf schlagen und sie vergessen.
War es nicht das, was er wollte? Oder wollte er sie einfach nur wiedersehen, egal, aus welchem Grund?
Unwichtig. Sergej war immer ein Mann der Tat gewesen und wusste jetzt, was er zu tun hatte. Entschlossen wandte er sich zu den Herren am Konferenztisch um, die ihn erwartungsvoll anblickten, und beendete das Meeting.
„Gentlemen, ich denke, es ist alles geklärt. Ich betrachte die Sache als abgeschlossen.“
Die Glocke an der Ladentür zu „Knit & Pearl“ läutete scheppernd, und Hannah blickte von ihrer wenig erfreulichen Buchprüfung auf. „Hallo, Lisa.“
Lisa Leyland war ihr im vergangenen Jahr eine gute Freundin geworden. Wenige Wochen nach Hannahs Rückkehr aus Moskau war sie an einem kühlen Frühlingsabend in den leeren Laden gekommen und hatte ihr vorgeschlagen, ihre schönen, selbst gestrickten Pullover über den Laden zu verkaufen und Hannah zur Hälfte an dem Erlös zu beteiligen. Nachdem ihr Mann arbeitslos geworden war, hatte sie nach kreativen Möglichkeiten gesucht, etwas Geld dazuzuverdienen. Die Pullover verkauften sich tatsächlich erstaunlich gut, und seit einiger Zeit bot Lisa abendliche Strickkurse an, die das Geschäft ebenfalls ein wenig ankurbelten.
Jetzt brachte sie neue Pullover und Sets aus Mützen und Handschuhen, die sie auf der Ladentheke ausbreitete. „Und, wie sieht es aus?“, fragte sie mit einem bezeichnenden Blick auf die Bücher.
„Leider nicht so gut.“ Hannah stand auf, um sich Lisas Ware anzuschauen. Trotz aller Bemühungen hielt sich der kleine Laden nur mit Ach und Krach über Wasser. Kein Wunder, dass ihre Eltern so viele unbezahlte Rechnungen angehäuft hatten. „Die Sachen sind wirklich wunderschön, Lisa“, sagte sie lächelnd.
„Danke.“ Aber die Freundin ließ sich nicht von den Büchern ablenken. „Was willst du unternehmen?“
Hannah rieb sich seufzend die schmerzenden Schläfen. Sie fühlte sich unendlich müde, als würde der ständige Kampf ums geschäftliche Überleben ihr alle Energie rauben. Sie wusste nicht, wie lange sie das noch aushalten konnte. Sie wollte nicht mehr. „So lange weitermachen wie möglich“, antwortete sie dennoch. „Was soll ich denn sonst tun?“
„Du könntest den Laden verkaufen.“
Hannah erstarrte. Es war das erste Mal, dass Lisa es so deutlich aussprach. Verkauf den Laden. Was bedeutete, alles aufzugeben, wofür ihre Eltern gelebt, woran sie geglaubt hatten. Aber hatten ihre Eltern das wirklich getan?
Seit ihrer Rückkehr aus Russland hatte sie angefangen, so manches zu hinterfragen. Die Begegnung mit Sergej Kholodov, die Entdeckung, wie sie von ihren Eltern getäuscht worden war … das alles hatte sie verändert.
„Ich bin noch nicht bereit zu verkaufen. Und ich weiß gar nicht, ob sich überhaupt ein Käufer finden ließ.“
„Wenn du es nicht versuchst, wirst du es nie herausfinden.“
Ich wüsste ja nicht einmal, wohin ich gehen sollte.
Seltsam, dass all die Zweifel mit Sergej angefangen hatten. Obwohl sie sich alle Mühe gab, ihn zu vergessen, musste sie ständig an ihn denken. Mit wenigen scharfsichtigen Beobachtungen … und einem leidenschaftlichen Kuss … hatte
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