Julia Extra Band 0350
er die Zweifel gesät. All ihr Überzeugungen waren zunichtegemacht worden, eine deprimierende Kettenreaktion, die ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt hatte. Jetzt war sie sich nichts mehr sicher. Sie war auch nicht mehr nervtötend optimistisch . Was Sergej sicher egal war. Denn bestimmt hatte er in diesem Jahr nicht einen Gedanken an sie verschwendet.
Weil ich Jungfrauen nicht anfasse … schon gar keine, die kaum küssen können.
Bei der Erinnerung zuckte Hannah zusammen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so gedemütigt gefühlt. Deutlicher hätte er nicht sagen können, dass er sich nicht im Geringsten für sie interessierte. Was hatte sie sich nur eingebildet?
Mit einem bewusst fröhlichen Lächeln wandte sie sich wieder Lisa zu. „Außerdem solltest du mir nicht raten zu verkaufen, denn schließlich hängt dein Lebensunterhalt ja auch von dem Laden ab.“
Lisa winkte ab. „Es ist nicht so, als würde ich Millionen an dem Verkauf der Pullover verdienen. Und ich möchte vor allem, dass du glücklich bist.“
„Ich bin glücklich.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, aber sie war gelogen. Hannah war nicht glücklich. Jedenfalls nicht so, wie sie es einmal gewesen war … oder geglaubt hatte zu sein. Nervtötend optimistisch. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder so glücklich sein könnte.
Vielleicht war sie ja einfach nur erwachsen geworden.
„Ich muss los.“ Lisa knöpfte sich den Mantel wieder zu. „Dave hat heute Nachmittag ein Vorstellungsgespräch, und ich möchte zu Hause sein, wenn er zurückkommt.“
„Ich drück die Daumen“, sagte Hannah herzlich.
„Die Hoffnung stirbt nie“, erwiderte Lisa lächelnd und tätschelte ihr tröstend die Schulter. „Pass auf dich auf, Kindchen. Und denk über meine Worte nach.“
Hannah nickte, ohne die Freundin anzusehen. Sie wollte keine Versprechungen machen, die sie nicht einhalten würde. Und sie war noch nicht bereit, auch nur an den Verkauf des Ladens zu denken. Auch wenn es sich wie Verrat anfühlte.
Jeder braucht seinen eigenen Traum.
Sie seufzte frustriert. Warum konnte sie nicht aufhören, an Sergej Kholodov zu denken? Sie erinnerte sich praktisch an jedes seiner Worte. Dabei war es schon ein Jahr her, seit sie zusammen zu Abend gegessen hatten. Seit sie sich geküsst hatten. Ein Kuss, den sie nicht vergessen konnte, der sie bis in ihre Träume verfolgte.
Hannah legte die Bücher in die Schublade zurück und nahm sich vor, später noch einmal über alles nachzudenken. Aber wann? Die Probleme lösten sich nicht von allein. Nachdem sie endlich alle Schulden auf den Laden und das Haus getilgt hatte, brachte er gerade genug ein, um damit über die Runden zu kommen. Eine schlechte Saison, eine unvorhergesehen größere Ausgabe, und sie stand vor der endgültigen Pleite.
Als die Ladenglocke erneut ertönte, rang Hannah sich ein müdes Lächeln ab und drehte sich zu dem vermeintlichen Kunden um. Doch das Lächeln schwand, als sie erkannte, wer da, bekleidet mit einem eleganten dunklen Maßanzug, ihren kleinen Handarbeitsladen betreten hatte.
Sergej.
Sie hatte sich nicht verändert. Ehe Sergej begriff, wie ihm geschah, wurde er von Freude und Erleichterung überwältigt, als er Hannah vor sich erblickte: das seidige dunkle Haar, das ihr zartes Gesicht umschmeichelte, die ausdrucksvollen blauen Augen, an die er sich so gut erinnerte. Und sie lächelte. Wie sie immer gelächelt hatte. Vielleicht freute sie sich ja wirklich, ihn zu sehen.
Nachdem Grigori rasch herausgefunden hatte, dass Hannah immer noch in Hadley Springs lebte und dort ihren kleinen Laden führte, hatte Sergej sich sofort einen Mietwagen genommen und war losgefahren. Er stellte fest, dass Hannah nicht übertrieben hatte: Hadley Springs war wirklich ein verschlafenes Nest, in das sich auch nur wenige Touristen verirrten. Kein Wunder, dass der kleine Laden kaum genug abwarf. Sergej wunderte sich, warum Hannah noch immer daran festhielt.
„Hallo Hannah.“
Bestürzt beobachtete er, wie ihr Lächeln schwand und sie sich hinter einer verschlossenen, abweisenden Miene verschanzte. Eine Reaktion, die er seit Kindertagen trainiert hatte, als er begriffen hatte, dass ihm sowohl Tränen wie Lachen nur Strafe einbrachten. Besser, nichts zu sagen und nicht zu zeigen, was man fühlte.
Doch von Hannah hatte er das nicht erwartet.
„Was … was machst du hier?“
„Nun, ich bin bestimmt nicht wegen der Sehenswürdigkeiten gekommen“, antwortete er lächelnd.
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