Julia Extra Band 0350
ihr Job – ihre richtige Arbeit, nicht der Auftrag, den sie hier für Rick erledigte. Der Grund für ihren Aufenthalt in Mailand hatte nichts mit Mode zu tun. Das war die Welt ihres Vaters gewesen. Sie hatte ihren eigenen Platz in einer anderen Welt. Einer sicheren Welt. Und in dieser Welt gab es keine Männer, die sie so sehr verwirrten, dass sie ihre Sinne gefangen nehmen konnten.
Marco reichte seinem Sekretär die unterschriebenen Unterlagen zurück. Mit den Gedanken war er jedoch bei dem anstrengenden Anruf, den er von seiner Schwester erhalten hatte. Er wusste, dass sie darauf hoffte, er würde ihren Sohn Pietro nach dem Studium in seinen persönlichen Stab aufnehmen. Irgendwann sollte Pietro dann einen Sitz im Vorstand des Familienunternehmens erhalten – in einem aus den verschiedensten Branchen bestehenden Wirtschaftsimperium, das Generationen lombardischer Kaufmänner und Edelleute aufgebaut hatten.
Marco hatte dem Portfolio eine Privatbank hinzugefügt, was ihn im Alter von dreißig Jahren zum Milliardär gemacht hatte. Heute, mit dreiunddreißig, setzte er seinen messerscharfen Verstand nicht mehr ausschließlich mit Blick auf die Zukunft ein, sondern beschäftigte sich ebenfalls mit der Vergangenheit. Um genau zu sein, galt seine Aufmerksamkeit dem künstlerischen Erbe der Familie.
Marco hatte nie verstanden, warum seine ältere Schwester ein derart emotionaler Mensch war. Ihre Eltern waren kühle Aristokraten gewesen, die es Kinderfrauen und Internaten überlassen hatten, sich um die Sprösslinge zu kümmern. Seine Mutter war das genaue Gegenteil des Klischees der italienischen Mutter gewesen. Natürlich war sie stolz auf ihre Kinder gewesen, doch herzliche Liebesbezeugungen hatte es von ihr nie gegeben. Nicht, dass Marco deshalb mit Schwermut auf seine Kindheit zurückblicken würde. Sein persönlicher Freiraum und Distanz zu anderen waren ihm sehr wichtig.
Die Sorge seiner Schwester um ihren einzigen Sohn konnte er natürlich verstehen, auch wenn er ihre Argumentation, weshalb Pietro diesen Modeljob angenommen hatte, nicht nachvollziehen konnte: Würde Marco dem Neffen eine großzügigere monatliche Unterstützung zukommen lassen, dann wäre der arme Junge nicht so empfänglich für dubiose Angebote. Natürlich hatte sie erklärt, wie dankbar sie ihm war, dass er sich der Sache angenommen und die schreckliche Person, die ihren Sohn ködern wollte, zurechtgewiesen hatte. Schließlich war ihnen beiden klar, was mit unschuldigen Jugendlichen passieren konnte, die auf der Suche nach einer Modelkarriere an zwielichtige Gestalten gerieten.
Marcos Blick ging zu dem silbergerahmten Foto auf seinem Schreibtisch. Olivia war gerade sechzehn gewesen, als dieses Foto aufgenommen worden war. Mit schüchternem Lächeln schaute sie in die Kamera. Sie sah jung und unschuldig aus, unfähig, irgendjemanden zu täuschen oder zu betrügen. Ihre Schönheit glich der einer zarten Rosenknospe – zu erahnen, aber noch nicht voll erblüht. Nun, Olivia hatte nie die Gelegenheit erhalten, aufzublühen.
Wut flackerte in Marco auf, gesteigert noch durch die Erinnerung an den Stromstoß sexueller Erregung, der ihn heute Morgen durchzuckt hatte – für eine Frau, die eine solche Reaktion in ihm niemals hätte hervorrufen dürfen. Eine kurze Verirrung, mehr nicht, versicherte er sich, vermutlich darauf zurückzuführen, dass er schon seit Längerem mit keiner Frau mehr das Bett geteilt hatte.
Er stand auf und ging zum Fenster. Er war nicht unbedingt ein Stadtmensch, auch Mailand sagte ihm nicht übermäßig zu, aber aus geschäftlichen Gründen war es sinnvoll, sich hier ein Apartment und ein Büro zu halten. Er besaß mehrere Immobilien, manche gekauft, andere geerbt.
Müsste er aus diesen Immobilien ein Zuhause für sich wählen, fiele seine Entscheidung auf ein Schloss, das ein Vorfahr erbaut hatte, der Kunstsammler gewesen war, so wie Marco auch.
Zuerst war er argwöhnisch gewesen, als sich die britische Historische Gesellschaft mit der Bitte um Hilfe bei einer Ausstellung über italienische Malerei und Architektur an ihn gewandt hatte. Doch die Ausführungen waren überzeugend gewesen, so überzeugend, dass er sich bereit erklärt hatte, die Archivarin, die im Auftrag der Gesellschaft nach Italien reiste, auf ihrer Tour zu begleiten. Anfangen würden sie bei Marcos Besitztümern in Mailand und am Comer See, als letztes Ziel dieser Rundreise würden sie dann das Castello di Lucchesi in der Lombardei
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