Julia Extra Band 0350
ansteuern.
Über Dr. Wrightington wusste Marco nur, dass sie ihre Doktorarbeit über die Verbindungen zwischen der italienischen Kunst- und Architekturwelt und britischen Mäzenen geschrieben hatte. Zur Begrüßung der Archivarin hatte er einen Empfang in einem Schloss organisiert, in dem einst die Sforzadynastie, die Herzöge von Mailand, gewohnt hatten und das jetzt ihm gehörte. Marco hatte das Schloss in ein öffentliches Museum umgewandelt.
Er sah auf seine Armbanduhr. Bis zum Empfang blieb ihm noch eine Stunde.
2. KAPITEL
Lily sah sich ein letztes Mal in dem unpersönlichen kleinen Hotelzimmer um. Ihr Koffer war gepackt, jetzt wartete sie nur noch auf das Taxi.
Ihr Blick fiel auf die Tasche mit ihrem Laptop. Dr. Lillian Wrightington, besagte der Aufkleber. Als sie achtzehn wurde, hatte sie den Mädchennamen ihrer Großmutter angenommen, um nicht mit ihren berühmten Eltern in Verbindung gebracht zu werden. Aber selbst heute noch, ein Jahr, nachdem man ihr den Doktortitel verliehen hatte, überkam sie jedes Mal ein enormes Glückgefühl, wenn sie das „Dr.“ vor ihrem Namen stehen sah.
Rick konnte nicht verstehen, warum sie dieses Leben gewählt hatte. Wie auch? Seine Erinnerungen an den Vater waren schließlich ganz andere.
Heute Nacht hatte Lily wieder diesen Traum gehabt, zum ersten Mal seit Jahren. Er verlief immer gleich: Ihr Vater rief sie ins Studio, weil sie für ein Model einspringen sollte. Der Gedanke, fotografiert zu werden, machte ihr Angst. Verzweifelt suchte sie nach der eigenen Kamera, um sich dahinter zu verstecken. Dann trat ein Mann durch die Tür, sein Gesicht war nicht zu erkennen, aber Lily wusste dennoch, wer er war – und sie fürchtete sich vor ihm. Sie floh vor ihm, rief nach dem Vater, doch der war zu beschäftigt und hörte sie nicht. Der Mann griff nach ihr, Panik und Abscheu stiegen in ihr auf …
Schon tausendmal hatte sie diesen Traum geträumt, doch heute Nacht hatte er anders geendet als früher: Die Tür hatte sich ein weiteres Mal geöffnet, und voller Erleichterung war sie auf den Neuankömmling zugeeilt und hatte sich in seine Arme geworfen. Denn trotz des Ärgers, der von ihm ausging, wusste sie, dass er sie beschützen würde …
Wieso tauchte ausgerechnet der Mann, der sie heute beim Fotoshooting so zusammengestutzt hatte, als Retter in ihrem Traum auf? Wahrscheinlich, weil er die gleiche Verachtung für die Schattenseiten der Modefotografie empfand wie sie. Damit musste ihr Unterbewusstsein ihn als sicheren Hafen vor jenen begriffen haben, vor denen sie sich schon in jungen Jahren zu fürchten gelernt hatte. Aber … war das der einzige Grund?
Lily schüttelte sich leicht. Welchen anderen Grund sollte es geben? Manchmal tat es nicht gut, wenn man Dinge übertrieben genau analysierte.
Wichtiger war doch die Frage, weshalb der Traum nach Jahren zurückgekehrt war. Obwohl, die Antwort konnte sie sich denken: Sie war wieder der Atmosphäre in einem Fotostudio ausgesetzt gewesen. Das hatte die unwillkommenen Erinnerungen zurückgebracht. Erinnerungen, die sie hinter sich gelassen hatte, ermahnte sie sich resolut. Sie war jetzt ein anderer Mensch, hatte sich aus eigener Kraft ein neues Leben aufgebaut. Sie war Dr. Lillian Wrightington, Archivarin, und ihr Spezialgebiet war der Einfluss der italienischen Renaissance auf die Herrenhäuser in England.
Die Hotelrezeption rief an, um Bescheid zu geben, dass das Taxi angekommen war. Also fuhr Lily mit dem Aufzug in die Lobby hinunter. Ihren Koffer zog sie hinter sich her. Ehrlich gesagt, das bevorstehende Treffen mit dem Prinzen di Lucchesi machte sie ein wenig nervös. Aber nur ein wenig. Als freiberufliche Mitarbeiterin der Historischen Gesellschaft hatte sie oft genug an Spendenveranstaltungen teilgenommen, um sich nicht von den Reichen und Adeligen dieser Welt einschüchtern zu lassen. Außerdem wusste sie durch ihre wissenschaftliche Forschungsarbeit oft genauso viel über die sprichwörtlichen Leichen im Keller der Adelsfamilien wie die jeweilige Familie selbst.
Die meisten Kunsthistoriker konzentrierten sich auf das Leben der Künstler selbst, sie dagegen hatte über die Mäzene nachgeforscht. Anfangs hatte sie lediglich eine Liste aufstellen wollen, welcher Förderer welchem Künstler seine Gunst gewährt hatte. Doch im Laufe ihrer Arbeit hatte es sie mehr und mehr fasziniert, warum ein bestimmtes Kunstwerk oder ein bestimmter Künstler einen bestimmten Gönner angezogen hatte.
Natürlich hätte Lily sich
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